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Die Herbergssuche von Kaima

von Markus A. Maesel · 04.07.2008 · 3 Kommentare

Wenn abends sich die Kirchentüren in Kaima schließen, ist der Christengott in den vier Kirchen des Minahasa-Dorfes einsam und verlassen. Mit dem Tag weicht der weiße Opo am Kreuz den opo-opo, den alten Geistern des Minahasa-Volkes. Ihnen gehört die Nacht im äußersten Nordosten der Insel Sulawesi, die dann bedrohlich wie eine Krake mit ihren Fangarmen im indonesischen Archipel liegt.

Schwülwarm ist es in der katholischen Dorfkirche von Kaima, Kühle spenden nur die gekalkten Wände und der weiß geflieste Fußboden. Ich schaue auf das Abbild des Gekreuzigten im Chorraum. “Warum ist der Heiland hier am Kreuz nicht braun wie ihr?”, spreche ich eine ältere Frau an, die gerade dem Ausgang zustrebt. “Jesus war doch ein Weißer, oder?”, schüttelt sie im Vorbeigehen erstaunt den Kopf über meine absonderliche Frage.

In der Zweitsprache Indonesisch nennen die Minahasa den dornengekrönten Opo Tuhan. Mit Tuan - ohne h - redet man auch bleichgesichtige Langnasen wie mich an. Die opo-opo hingegen würde man nie mit Tu(h)an anreden, sie sind braun wie die Minahasa selbst. Während der Christengott qualmende Weihrauchschwaden aus dem fernen Arabien einatmen muss, umgibt die opo-opo nur der allgegenwärtige, süßliche Geruch der Nelken und Muskatnüsse, die am Straßenrand zum Trocknen ausliegen. Die alten Minahasa-Geister sind den Menschen vertraut, aber unberechenbar. Undurchsichtig wie die Nacht, die schlagartig am Äquator hereinbricht.

Ein verwitterter Rattansessel auf der Veranda gibt meinem Rücken Halt, unruhig streichen meine nackten Füße über die vertrauten Kokosholzplanken. Meine Augen versuchen vergeblich den im Morgenlicht eingetauchten Klabat, den mächtigen, feuchtgrünen Hausvulkan Kaimas, zu begreifen. Der Feuerberg sei erloschen, sagen die Dorfbewohner. Doch seine mörderische Kraft hat er sich bewahrt. Eine tiefe Furche läuft vom Klabat durch Kaima. Sie bildet das Flussbett des Dompopo, der in jeder Regenzeit neu entsteht. Vor wenigen Monaten war sie Bahn für die Schlammlawine, die Steine und Bäume mit sich riss und alles Lebendige unter sich begrub. Die Brücke, die einst das Dorf verband, wurde zerstört. Das weiß getünchte Holzhäuschen unterhalb der Brücke, mit seinen in leuchtendem Grün gestrichenen Fensterrahmen, steht eingedrückt wie ein Pappkarton neben dem Graben. Tot sind vier von fünf Kindern der Familie, die dort lebte. Eines von ihnen wurde in die Reisfelder weggeschwemmt und nicht mehr gefunden. Eine Kinderseele, die nicht zur Ruhe kommt, weil niemand den kleinen Körper in seine letzte Wiege legen kann. Zynisch prangen am oberhalb der Brücke gelegenen, ebenfalls von der Katastrophe gezeichneten Pfahlbau die großen, weißen Buchstaben TITANIC.

Das Haus auf der anderen Seite des Dompopo, das wir bewohnen, blieb von der Schlammlawine verschont. Der verstorbene Vorbesitzer des Grundstücks, ehemals Oberhaupt von drei Ortschaften, hatte als starker opo-opo seine Heimstatt geschützt. In der Hütte mit den grünen Fensterrahmen lebten hingegen nur einfache Menschen; Mieter, die oft wechselten, deren Kräfte im alltäglichen Überlebenskampf aufgezehrt wurden. Aus ihren Reihen konnte nach dem Tode kein starker, den Hausgrund schützender opo-opo geboren werden. Und der Christengott war in jener Nacht wie immer in den Kirchen Kaimas eingesperrt.

Mein Blick fällt auf den runden Verandatisch. Wie immer steht in seiner Mitte die Kokosnussschale mit den ausgedrückten Zigarettenkippen. Die Rattanstühle um ihn herum sind heute leer. Dort wollte die Tochter des Hauses ein deutsches Lied von mir hören. “Ich hab’ mein Herz in Heidelberg verloren”, sang ich damals unbeholfen und etwas schüchtern in die laue Tropennacht hinein. “Übersetze mir das Lied”, bat sie mich und sah mich auffordernd mit ihren dunklen Augen an. Das war nicht einfach, da Gefühle bei Indonesiern nicht im Herzen, sondern in der Leber (hati) ihren Sitz haben. Die Übersetzungsversuche blieben nicht ohne Folgen. Im Vorhof steht ein Festzelt mit Bambusgerippe. Heute werden wir dem Pfarrer in der Kirche erklären, dass bei uns Herz und Leber in Kaima verloren gingen. Wenig später blicken wir zu dem weißen Schmerzensmann am Kreuz empor. Der Gottessohn schaut mich gütig mit seinen Plastikaugen an, als wolle er sagen: “Irgendwann werden wir beide in Kaima ankommen”. Hunderte von Händen heißen mich nach der Trauung in der Großfamilie willkommen. Oft höre ich an diesem Tag das Sprichwort “Die säuerliche Tamarinde vom Berg und das Salz aus dem Meer treffen im selben Kochtopf zusammen”. Gegensätze verbinden sich zu einem schmackhaften Gericht - ein Brückenschlag über Tausende von Kilometern.

Ein lauter Knall zerreißt die Abendstille. “Neues Unheil vom Klabat”, vermuten wir und rennen in die Nacht hinaus. Ein Geländewagen voll mit angetrunkenen Sprösslingen reicher Eltern ist von der geländerlosen Behelfsbrücke in den Dompopo gestürzt. Die Dorfbewohner tuscheln an der Unfallstelle. Der opo-opo des verschollenen Kindes habe sie in den Dompopo heruntergezogen. Es habe sich für die Gier der Reichen und Mächtigen im Dorf gerächt, die am Klabat abholzten, seine Steine für ihre Baugeschäfte wegnahmen und so das Erdreich für die Schlammlawine lösten. Eine besser gekleidete Frau, die lange in Europa lebte, möchte vor dem Ausländer am Unfallort aufgeklärt wirken und versucht vergeblich an dem Gesagten zu zweifeln. Ihr verlegenes, hilfloses Gekicher erstickt im Gemurmel der Menschen, das wie ein Loblied auf den neuen opo-opo klingt. Das Kind ist ohne seinen entstellten Körper nach Kaima zurückgekehrt. Mit Macht hat es in den Herzen der Menschen Platz genommen. Wir gehen in das mit einer Gaslampe erleuchtete Haus zurück. Schwarzer Lavasand knirscht unter meinen Füßen. Der Weg kommt mir weiter vor als sonst.

[Anmerkungen: Die Schlammlawine ging im November 2000 nachts auf Kaima nieder. Die einzelnen geschilderten Szenen haben sich tatsächlich ereignet. Durch Vereinfachung von Handlungssträngen, zeitliche Verdichtung sowie die Art der Komposition ist eine Erzählung entstanden. Das verschollene Kind – ein Junge – wurde bis heute nicht gefunden.]

Kategorie(n): Geschichtliches und Völkerkundliches, Gesellschaftliches und Wirtschaftliches, Heiliges und Unheiliges, Indonesisches und Manadonesisches

3 Beiträge der Leser

  • Reddisch

    // Jul 4, 2008 at 10:18

    Sehr ergreifender Beitrag.

  • Anne Bünger

    // Jul 9, 2008 at 09:15

    Eine bewegende Geschichte, die zu denken gibt.
    Gruß Anne

  • Helga Moll

    // Jul 9, 2008 at 13:08

    Wunderschön, nachdenklich machend.Ich denke beim Lesen, ich bin dabei, ich rieche die trocknenden Gewürze. Dann kommt der Schlusspunkt und ich sitze nur vorm Computer.
    Vielen Dank für den Bericht
    Helga

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