TERRORINSTRUMENT

Schwerbehindertenausweis

von Markus A. Maesel · 28.07.2008 · 0 Kommentare

Für manche Menschen ist der Schwerbehindertenausweis mehr als nur eine Erleichterung ihres Schicksals. Er hebt ihr Selbstbewusstsein, indem sie ihn als Erziehungsmittel gegen eine vermeintlich nur rücksichtslose, nicht behinderte Umwelt einsetzen. Das Dokument wird in ihren Händen zum Schlagstock der im eigenen Seelengärtlein gepflegten Verbitterung. Diese pädagogisierenden Racheengel leben sich besonders gerne in öffentlichen Verkehrsmitteln aus, vor allem bei den so genannten Behindertensitzplätzen.

Ein Linienbus steht am Berliner Platz in Ludwigshafen. Drahtig steigt ein älterer Mann in kurzen Hosen und Sportschuhen in das Gefährt ein. Der Bus ist noch nicht einmal halbvoll. Dennoch strebt er auf einen bereits belegten Platz zu, den er fälschlicherweise für einen Behindertensitzplatz hält. Er zückt einen Schwerbehindertenausweis und pocht rechthaberisch darauf, dass er hier  Platz nehmen möchte. Die Leute wollen ihre Ruhe haben und weichen dem alten Sonderling. Aufgeblasen, mit Siegermiene thront er daraufhin auf seinem erbeuteten Sitzplatz. Sein Tag ist gerettet.

Szenenwechsel. Der ICE nach Stuttgart fährt frühmorgens in den Hauptbahnhof Mannheim ein. Das Gedränge auf die oft knappen Sitzplätze beginnt. Zuletzt steigt immer ein Mann ein, der zielstrebig auf die für Schwerbehinderte ausgezeichneten Sitzplätze zusteuert. Vorwurfsvoll, mit knarrender Stimme und grimmig-leidender Miene herrscht er die bereits dort sitzenden Pendler an: „Sind Sie schwerbehindert?“ Wie eine Polizeimarke hält er ihnen dabei sein papierenes Statussymbol unter die Nase. Auch er fährt nach seinem geglücktem Auftritt mit gehobenem Selbstwertgefühl an seine Arbeitsstätte.

Oder in einem der wenigen IC, die im Hauptbahnhof Ludwigshafen halten. In einem Waggon befindet sich gleich nach der Glasschiebetür eine Reihe mit drei Sitzplätzen für Schwerbehinderte. Zwei davon sind noch frei. Ein Mann Anfang Sechzig betritt mit Krücke und gequältem Gesichtsausdruck den Wagen und humpelt auf die Behindertensitzplätze zu. Er setzt sich aber nicht auf einen der beiden freien Plätze, sondern zückt seinen Schwerbehindertenausweis und fordert den Inhaber des belegten Platzes auf, diesen für ihn frei zu machen. Da dieser nicht mit einem vergleichbaren Dokument kontern kann, weicht er. Ächzend lässt sich der Krückenbenutzer auf dem Platz nieder. Doch plötzlich fällt ihm ein, dass er seiner Begleitung draußen auf dem Bahnsteig noch etwas Wichtiges sagen muss. Er springt auf und rast ohne Krücke zur Zugtür. Später kehrt er wieder mit kultiviert-leidendem Blick zu seinen drei Sitzplätzen zurück.

Das Schlimmste, was dem geschilderten Menschenschlag passieren könnte, wäre eine Spontanheilung in Lourdes. Nach der damit verbundenen Rückgabe des Schwerbehindertenausweises würden diese Zeitgenossen ins Nichts und die Bedeutungslosigkeit fallen. Wie könnten sie sich noch ohne ihre lieb gewonnene Persönlichkeitsprothese Achtung, Aufmerksamkeit und Geltung in Bus, Straßenbahn oder Zug verschaffen? Wie sollten sie ihren Machttrieb befriedigen? Wahrscheinlich würden sie  deshalb in so schwere Depressionen fallen, dass sie dann wieder Anrecht auf einen Schwerbehindertenausweis hätten. Das Leben ist ein  Kreislauf.

Kategorie(n): Gesellschaftliches und Wirtschaftliches, Kurpfälzisches und Südwestdeutsches, Mobiles und Zugiges

Noch keine Beiträge der Leser

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Kommentar: