NOVEMBERDUNST

Tugendpalme

von Markus A. Maesel · 07.11.2008 · 1 Kommentar

Der ICE rast durch einen diesigen Novembertag. Ich schaue durch das Fenster; nichts als Bäume, die sich langsam, aber unaufhaltsam ihrer gelben, braunen und roten Blätter entledigen. Die mich ergreifende Stimmung schleichender Vergänglichkeit lässt meine Gedanken nach Merseburg schweifen, ein beschauliches Städtchen in Sachsen-Anhalt. Ein Studienaufenthalt hatte mich kurz nach der Wende dorthin verschlagen. Alles war im Zerfall, kaum Menschen auf den Straßen und Plätzen, die Luft war durch die Abgase der benachbarten Leuna-Chemie gelb und beißend. Die Langeweile trieb mich nach der Arbeit bis auf den alten Friedhof der Stadt. Dort blieb mein Blick an einer schwarzen Gusseisenplatte hängen, die einen Grabstein zierte. Drohend verkündete auf ihr eine Inschrift: „Sie trug die Palme der Tugend allen voran“.

Seitdem frage ich mich immer wieder, wie das Leben dieser Tugendpalme ausgesehen haben mag. Eine altjüngferliche Tante, die häkelte, sonntags ganz vorne in der Kirche saß und bei Familienfesten die Neffen und Nichten mit ihrer Moralinsäuerlichkeit quälte? Auf jeden Fall dürfte ein wenig gelebtes Leben hinter der Widmung stehen. Vielleicht verbirgt sich dahinter auch ein leidgeprüfter Neffe, der die Inschrift als posthumen, ironischen Racheakt verstanden hatte. Möglicherweise gab es auch wirklich in Merseburg keine Alternative, als die Palme der Tugend durch die tristen Straßen zu tragen.

Die bunten, herabfallenden Blätter da draußen haben gelebt, haben in wildem Chlorophyllrausch die Sonne genossen und gierig den labenden Regen in sich aufgesogen. Die Palme stand hingegen angestaubt in der Ecke eines halbdunklen Wohnzimmers. Sie bekam gerade so viel Licht und Wasser, dass sie nicht verendete. Projektionen im Novemberdunst, in einem rasenden ICE.

Kategorie(n): Ausgekramtes und Entdecktes, Makaberes und Skurriles, Mobiles und Zugiges

1 Beitrag der Leser

  • Helga Moll

    // Nov 18, 2008 at 19:55

    Hallo Markus,
    bestimmt bist Du in Deinem Leben auch schon einigen “Tugendpalmen” begegnet. Sie fallen vor lauter “Tugend” nur niemanden auf. Arme Frauen …
    Gruß Helga

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