WORTHÜLSEN (1)

Krise als Chance?

von Markus A. Maesel · 11.12.2008 · 2 Kommentare

Irgendwann und irgendwie wurde unserem blauen Planeten der erhabene, optimistisch-zukunftsweisende und wärmende Wohlfühlsatz „Die Krise als Chance begreifen“ geschenkt. Mutter dieser Wellness-Sentenz könnte das New-Age-Credo „Alles wird gut“ und Vater die amerikanisch-nichtssagende Redewendung „You are welcome“ gewesen sein. Inzwischen geistert diese Weisheit durch Politik, Wirtschaft, Finanzwelt, religiöse Bekenntnisse und persönliche Lebenslagen, immer wenn dunkle Wolken am Horizont aufziehen.

In der leistungsorientierten Zwei-Drittel-Gesellschaft, die nur Sieger sehen und kennen will, ist daraus fast schon eine Forderung oder gar ein Befehl geworden: „Du musst die Krise als Chance begreifen, jede Krise ist eine Chance, und wenn Du aus der Krise keine Chance machst, bist Du selbst an Deinem Elend schuld, basta“. Und gläubig nicken alle hyperaktiven „Die-Ärmel-Hochkrempler“. Der Wellness-Satz ist für sie das schmerzstillende, betörend-verdrängende Opium, wenn das kapitalistisch-neoliberale Menschenverwertungs- und Wirtschaftsbild gelegentlich ins Wanken gerät.

Und wenn die Krise doch nur eine Krise ist und bleibt? Kennen wir nicht alle Menschen, für die die Krise keine Chance war und ist? Die aus ihrer Sackgasse nicht mehr herauskommen, schrullig werden oder an ihrem Schicksal zerbrechen? Menschen, die sich durch dunkle Tunnel schleppen, bis sie irgendwann kurz vor dem nächsten Tunnel etwas Licht sehen dürfen. Für die nur noch der Weg das Ziel, aber keine Chance ist. Ein Kreuzweg ohne Auferstehung. Im besten Falle bekommen sie durch die aufgebürdete Last einen Rücken wie ein Muli. Zweifellos können sie dabei auch die Fähigkeit erwerben, sich in ihrer Wüste aufzuhalten, sich auszuhalten und durchzuhalten. Aber eine Chance ist das noch lange nicht. Und wie viel Hohn steckt in diesem Satz. Sagen Sie doch einmal einem Obdachlosen auf der Parkbank oder einer Familie in den Slums von Kalkutta, dass sie ihre Krise als Chance begreifen sollen.

Oft schlittern Menschen, Firmen und Institutionen in eine Krise hinein, torkeln aber durch Zufall oder glückliche Umstände nach einiger Zeit wieder benommen aus der Misere heraus. Dann wird im Nachhinein meist in die überstandene Krise eine genutzte Chance hineininterpretiert. Und sofort entspricht man wieder der von unserer Gesellschaft geforderten Wirklichkeit und steht mit breitmauligem Cheese-Lächeln erneut auf der Gewinnerseite.

Geht es um die Gesundheit, wandelt sich „Krise als Chance“ schnell zu „Krankheit als Weg“. „Krankheit als Weg“ ist der Titel eines esoterisch angehauchten Bestsellers von Thorwald Dethlefsen und Rüdiger Dahlke, der seit 1983 immer wieder Neuauflagen erlebt. Als das Buch bei Vertretern der pädagogischen und pädagogisierenden Zunft der Renner war, getraute man sich in Anwesenheit von Erzieherinnen nicht einmal mehr zu husten, weil sonst die obligatorische Frage kam, ob man dieses Signal des Körpers auch richtig verstehe. Man solle die seelischen Probleme hinter der körperlichen Unmutsäußerung sehen und an ihnen arbeiten, klang es stereotyp und unisono. Eben die Krise als Chance nutzen.

In dieser Tradition steht auch, dass man heute selbst mit Krebs im letzten Stadium noch Marathon laufen und dann mindestens einen 200-seitigen Erfahrungsbericht veröffentlichen muss. Ich erinnere mich gegen diesen Trend an einen schwerkranken Jesuiten, den ich vor Jahren auf dem Ludwigsplatz in Ludwighafen am Rhein beobachtete. Er stand ehrfurchtsvoll staunend vor einem Baum, dessen Stamm entlang er bis in den lichtdurchbrochenen Wipfel schaute; dann die Rinde mit seinen Händen befühlte. Bald darauf erfuhr ich von seinem Tod. Er versuchte nicht mit Marathonschuhen der Krise als Sieger davonzurennen, stattdessen zog er nochmals die Kinderschuhe an und nahm mit kindlichem Staunen Abschied von den alltäglichen Schönheiten dieser Welt. Er nahm die Krise als Krise.

Kategorie(n): Gesellschaftliches und Wirtschaftliches

2 Beiträge der Leser

  • Catja Rüter

    // Dez 12, 2008 at 15:54

    Krise als Chance

    Wieder einmal ein wirklich guter Beitrag!
    Die Krise als Chance macht deutlich wie leicht es doch ist, mit diesem einen Satz das Leid, Benachteiligungen usw. einzelner Menschen Herunterzuspielen! Obendrein werden sie für ihr Unglück auch noch selbst verantwortlich gemacht!

  • Helga Moll

    // Dez 26, 2008 at 21:46

    Tatsachen umkehren, Augen zu, nur der Wahrheit nicht ins Auge sehen, dazu noch Scheuklappen. Ist das wirklich unsere Welt?

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