ERNÜCHTERNDES

Weihnachtstango

von Markus A. Maesel · 26.12.2008 · 2 Kommentare

Der traditionelle Weihnachtsmarkt umgibt den Mannheimer Wasserturm. Die Besucher trotzen mit Glühwein dem nasskalten Wetter. Sein aufsteigender Dampf vermischt sich mit dem Geruch von heißem Bratfett, Gewürzaromen und dem Duft von Honigwachs. Passanten mit Weihnachtsmannmützen auf dem Kopf halten ihr Accessoire auch noch nach Jahren für originell. Die Suche nach den letzten Weihnachtsgeschenken beherrscht die Szenerie. Jenseits der Querstraße hasten Menschen in den Planken, der Mannheimer Flaniermeile, aufgelöst im Kaufrausch von Geschäft zu Geschäft.

Fast unbemerkt steht ein Lateinamerikaner, mit dunkler Kleidung und schwarzem, zurückgekämmtem Haar, vor einem Schaufenster und spielt auf seinem Akkordeon einen melancholischen Tango. Aufgrund der vorbeifahrenden Straßenbahnen sind immer nur  einzelne Takte seiner Musik im abendlichen Gewimmel zu hören. Sie wirkt in ihrer Traurigkeit wie ein ernüchternder Salzhering auf das ihn umgebende süßlich-berauschende Weihnachtstreiben; als vorgezogenes Katerfrühstück durch die „Missachtung des oberflächlich-gefälligen Wohlklangs“.

„Tango – ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann“, beschrieb einmal der argentinische Komponist Enrique Santos Discépalo seine Passion. Gerade mit seiner Melancholie und seinen Brüchen gehört der Tango für mich unverwechselbar zu Weihnachten. Unsere traditionellen Weihnachtslieder reichen beim Krippengeschehen lediglich von der Geburt Jesu bis zu deren Verkündigung durch die Engel bei den Hirten auf dem Felde und dem Besuch der drei Weisen aus dem Morgenlande im Stall zu Betlehem. Und danach war es wieder still, einsam und kalt an diesem Ort. In dieser Zeit, die durch die Flucht der heiligen Familie nach Ägypten – Stichwort: kindermordender König Herodes – abgeschlossen wird, bewegte Maria all das Erlebte „in ihrem Herzen“.

Diese Zwischenzeit birgt Ungewissheit, Bruch und Aufbruch, Schwere und Melancholie in sich; es ist die Stimmung des Tangos. Ich stelle mir vor, dass Maria und Josef gemeinsam sich im Tangorhythmus wiegten und dann mit kühnen Schritten ihre kärgliche Behausung in Betlehem durchmaßen. Begleitet vom flackernden Schein einer Stalllaterne. Vielleicht haben sie sich bei dem gefühlvollen Tango „La Peregrinación“ – „Die Pilgerreise“ -  von Ariel Ramirez und José Libertella für den langen Weg nach Ägypten Mut angetanzt.

Zur Geschichte, Entwicklung und Kultur des Tangos vgl. Christian Scholze: Tango Argentino. Booklet zur CD „Argentina: Sexteto Mayor: Quejas de bandonéon”. World Network, erste Serie der WDR-Edition, Nr. 5. Frankfurt/Main 1991 (Vertrieb über Zweitausendeins). – Die verwendeten Tango-Zitate stammen aus dem Booklet.

Kategorie(n): Gesellschaftliches und Wirtschaftliches, Heiliges und Unheiliges, Kurpfälzisches und Südwestdeutsches

2 Beiträge der Leser

  • Peter Beerhalter

    // Dez 29, 2008 at 13:31

    Lieber Dr. Maesel,

    das sind schöne Gedanken zur rechten Zeit. Besinnlich…

    Und jetzt streichen wir mal die Vorsilbe “Be” von “Besinnlich” und kommen damit zu einer anderen Wahrnehmung des Tango:

    “Tango ist der vertikale Ausdruck einer horizontalen Leidenschaft” - eine SEHR sinnliche Interpretation, wie ich meine…

    Dass beide Wahrnehmungsarten ihre Berechtigung haben spricht unbedingt für den Tango als passende Musik zu den Festtagen. Er stimmt einerseits nachdenklich und regt inmitten des Weihnachtstrubels zum Innehalten an - wie oben sehr schön geschildert.

    Aber Tango regt auch noch etwas anderes an: die gute alte Leidenschaft !

    Und sollte es dem Tango vereinzelt gelingen, dem Komapatienten Eros wieder auf die Beine zu helfen, so ist das gerade in den hektischen Weihnachtstagen nur zu begrüßen.

    “Leg’ doch mal einen Tango auf, Schatz…” statt “gestern war mehr Lametta”…

    Wenn nicht jetzt, wann dann ?!

    Frohe Weihnachten von Peter Beerhalter

  • Markus A. Maesel

    // Feb 26, 2011 at 21:43

    Hier übrigens der Tango „La Peregrinación“:
    http://www.youtube.com/watch?v=wZF22J4PL6o

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