KULTURELLE VERLUSTÄNGSTE

Verbuschung

von Markus A. Maesel · 26.02.2009 · 4 Kommentare

Eine Journalistin sucht das schwarze Schaf ihrer Familie; einen Onkel, der vor vierzig Jahren von Köln nach Indonesien auswanderte. Sie trifft ihn auf der Ferieninsel Bali und wundert sich bei ihrer literarischen Annäherung an den „entfernten Verwandten“, wie deutsch er geblieben ist und wie distanziert er sich auch nach dieser langen Zeit gegenüber der Kultur seiner Wahlheimat verhält. Angst vor „Verbuschung“ vermutet die Nichte; ein in Diplomatenkreisen gebräuchliches Wort, wie sie anfügt.

Dieselbe Angst, allerdings unter dem Begriff „Verkanaken“, bewegte – ebenfalls in Indonesien – fast achtzig Jahre zuvor den Journalisten und Reiseschriftsteller Richard Katz. Ohne Distanz „verkanakten“ Europäer innerhalb von drei bis vier Jahren in den Tropen. Das Klima sei an allem schuld. Sie würden abergläubisch und fatalistisch, und dächten ohne Methode. Sie verpassten den geistigen Anschluss an Europa und verlebten ihre alten Tage wie Eingeborene. Dass der Engländer in den Tropen allabendlich den Smoking anziehe und an englischer Kost festhalte, sei daher kein Snobismus, sondern Selbstschutz gegen das „Verkanaken“.

Mit Verlustängsten um die eigene Kultur gingen besonders die Holländerinnen im kolonialen Indonesien wesentlich pragmatischer um. Um 1900 kleideten sie sich, der tropischen Hitze entsprechend, tagsüber wie die sie umgebenden Malaiinnen. Sie trugen die Kabaya, eine weite Bluse, sowie den Sarong, einen Wickelrock. Ihre Füße steckten nackt in Pantoffeln – für abendländische Moralvorstellungen dieser Zeit eine anstößige Präsentation. Erst abends zwängten sie sich für das gesellschaftliche Leben der Kolonie in europäische Kleidungsstücke, den „Marterinstrumenten der westlichen Civilisation“, wie sie der Biologe Ernst Haeckel bei seinem Java-Aufenthalt bezeichnete.

Wie man auch in Deutschland verbuschen kann, zeigt das Beispiel eines italienischen Freundes. Er, Abkömmling einer stolzen Mailänder Familie mit Ingenieuren, Architekten und Rechtsanwälten, verlegte beseelt von Germanophilie seinen Lebensmittelpunkt an den Rhein. Das Unverständnis der lombardischen Sippe über diesen Schritt steigerte sich zum Entsetzen, als er einige Zeit später in Sandalen bei einer Familienfeier in Mailand auftauchte. „Du bist ja wie ein Deutscher“, fand das Grauen seinen Weg in Worte. Verkanakt in Germanien.

Jahre später beehrten er und sein Vater mich mit einem Besuch in der Ludwigshafener Gartenstadt. Wir aßen und tranken gemütlich im hochsommerlichen Garten. Plötzlich wollte der Vater den Stadtteil sehen. Wir brachen zu einem Rundgang auf, begeistert dokumentierte der Signore alles Gartenstädtische mit seiner Filmkamera als ob er in Rom oder Paris wäre. Hatte ich das Sightseeing-Potenzial der Vorstadt über Jahrzehnte hinweg unterschätzt? Vielleicht war aber auch das Ganze für ihn wie Safari in Afrika – im Busch eben.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Indonesierin, die schon mehr als zwanzig Jahre in Deutschland lebte. Die Frau hatte, wenn sie ihre tropische Heimat besuchte, immer Sehnsucht nach Wurst und Brötchen. Aus indonesischer Sicht war sie sicherlich hoffnungslos verbuscht. Wie kann ein Mensch nur an einer Mahlzeit ohne Reis Gefallen finden?

Die Thematik macht auch vor mir nicht halt. Als Fernpendler gebärde ich mich nirgendwo so pfälzisch wie an meinem Arbeitsort im Großraum Stuttgart. Angst vor Verbuschung auf den Fildern?

Quellen: Stefanie Flamm: Bali. Ein entfernter Verwandter. In: Zeit-Online vom 11.03.2008; Richard Katz: Heitere Tage mit braunen Menschen. Hamburg/Berlin 2. Auflage 1955 (Erstauflage 1929), S. 241/242; Ernst Haeckel: Aus Insulinde. Malayische Reisebriefe. Bonn 1901, Drittes Capitel (komplettes Werk auch im Internet).

Kategorie(n): Ausgekramtes und Entdecktes, Geschichtliches und Völkerkundliches, Gesellschaftliches und Wirtschaftliches, Indonesisches und Manadonesisches, Kurpfälzisches und Südwestdeutsches

4 Beiträge der Leser

  • Winny Riedel-Kanu

    // Feb 26, 2009 at 13:40

    Hallo Markus, ohne Dich haette ich nie gemerkt, dass auch ich “verbuscht” bin. Nach meinen zahlreichen Reisen nach Suedostasien kann ich mir ein Essen ohne Chillies und Fischsoße nur schwer vorstellen und im Haus trage ich, wenn das Klima es zulaesst, am liebsten einen Sarong.

  • helga

    // Feb 26, 2009 at 19:58

    Wahrscheinlich eine Wortschöpfung der vermeintlich elitären Europäer. “Verbuschen” und “verkanaken” empfinde ich sehr abwertend.
    Gruß Helga

  • Anne

    // Mär 19, 2009 at 10:01

    Wenn ich nicht irre, ist der italienische Freund ein gemeinsamer. Bis man ihn als Prototypen deutschen Wesens halten könnte, wäre in dem Fall noch ein langer Weg. Verbuschung, andernorts auch Integration genannt, geschieht eben auf vielerlei Weise und beginnt halt meist in äußerer Angleichung. “Wehret den Anfängen!” scheinen da manche Neubürger hierzulande zu beherzigen. Ob das dann dem Frieden dient auf Dauer?

    Ergo:
    Verbuschung erwünscht!

  • hoetger

    // Dez 21, 2010 at 14:52

    …oh ja, das mit dem arbeitsplatz in den fildern kann ich nachempfinden! als nordlicht halte auch ich hier die stellung und mein brauchtum, oder besser gesagt meine norddeutsch eingefärbte sprache allerorten lebendig und hoch. doch das sich gerne an zeitweilige, gern besuchte aufenthalts- und lebensorte anpassen kenne ich: kölle ist mir zweite heimat und nicht nur in form des einig trinkbaren dialekts, sondern auch so mancher betonung in fleisch und blut ‘überjejangen’!

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