OPFERRITUAL DER MINAHASA

Prophetische Schweineleber

von Markus A. Maesel · 25.06.2009 · 5 Kommentare

Es ist genug der vielen Worte. Worte beschönigen, verschleiern, täuschen, schaffen vermeintliche Wirklichkeiten. Jetzt ist die Zeit des blutigen Opferrituals gekommen, aus dem klärende Weissagungen und letzte Gewissheiten fließen sollen. Persönliche Unsicherheiten an der Gabelung eines Lebensweges werden ein Ende finden … . Ich schrecke aus meinem unruhigen Schlaf auf, gerade hat der Wecker geklingelt. Es ist fünf Uhr morgens in Kaima, einem Dorf der Minahasa-Tonsea im Nordosten Sulawesis. In einer Stunde wird es schlagartig hell sein. Ich wanke in das Mandi - das indonesische Bad, schöpfe mit einer Kelle Wasser aus dem Plastikbehälter und gieße es mir über den Kopf. Langsam beginnt mein Hirn zu arbeiten.

Ach ja, das Opferritual. Seit knapp zwei Wochen leben wir mit unseren Kindern bei der Familie meiner Frau in Äquatornähe. Gleich am zweiten Tag nach der Ankunft macht mir Agust Pungus - meist nur Baga genannt -, der Schamane des Dorfes, seine Aufwartung. Wir kennen uns seit mehr als zehn Jahren. Damals habe ich ihn auf den Friedhof begleitet, als er in einer altertümlichen Minahasa-Sprache mit den Insassen verschiedener Gräber Kontakt aufnahm. Er ist ein Tonaas, ein Priester der alten Minahasa-Religion, die unter der Decke der Christianisierung seit mehr als 150 Jahren überlebt hat. Er bewahrt das Erbe der mythischen Stammeltern Toar und Lumimuut gegenüber einem dominierenden Protestantismus und Freikirchentum nordamerikanischer Prägung. Am besten kommt die katholische Minderheit mit der alten Religion zurecht. Wo Platz für Engel, Heilige und arme Seelen ist, finden auch noch die alten Ahnengeister des Minahasa-Volkes - die opo-opo - einen Unterschlupf. Ich nenne das Ökumene. Rigide Glaubenswächter würden naserümpfend von Synkretismus sprechen.

Seit ich als Einziger im Dorf den Schritt getan habe, meinen Sohn mit zweitem Namen “Toar” zu nennen, hat mich Agust Baga besonders in sein Herz geschlossen und bezieht mich bei rituellen Handlungen mit ein. Der Mann, der gewöhnlich in Batikhemd, kurzer Hose und breitkrempigen, schwarzen Filzhut mit der Aufschrift “Marlboro” auftritt, lädt meinen Schwiegervater und mich ein, ihm nach Palamba zu folgen. In dem winzigen, entlegenen Ort befinde sich das Grab der Stammeltern Toar und Lumimuut. Meine Neugierde ist geweckt, bisher kannte ich nur Watu Pinawetengan, den Stein, auf dem Toar und Lumimuut in mythischer Urzeit das Land an die einzelnen Minahasa-Stämme verteilt hatten.

Für Baga ist die weite Reise eine Auftragsarbeit. Eine Frau aus Kawiley möchte nächstes Jahr stellvertretende Gouverneurin der Provinz Nord-Sulawesi werden. Unsicherheit quält sie, ob sie sich bei ihrem Vorhaben auf ihr persönliches und familiäres Umfeld verlassen kann. Ein Schweineopfer und die Untersuchung der Leber des Tieres am heiligsten Ort der Minahasa-Religion soll dabei letzte Klarheit schaffen.

Um sieben Uhr brechen wir in einem Kleinbus von Kaima aus auf, in einem weißen Sack zappelt das Schwein seiner düsteren Zukunft entgegen. Zwischen den Menschen stapeln sich im Toyota-Vehikel Rantang - große Warmhaltebehälter aus Kunststoff - mit Reis und Fisch, Trinkwasser, Cap Tikus - der berüchtigte “Rattenschnaps” -, Bananenblätter für Unterlagen, große, getrocknete Palmwedel als Feuermaterial, Gerätschaften für das Opfer. In Tumaluntung vereinigen wir uns mit dem dortigen Tonaas und seinem Gefolge, dessen Toyota Avanza wir hinterhertuckern. Über Airmadidi fahren wir hinauf ins kühlere Minahasa-Hochland nach Tondano, den gitarrenförmigen Tondano-See entlang bis nach Langowan. Die Silhouetten der Vulkane Lokon und Mahawu begleiten uns, in der Ferne droht der Soputan, der dramaturgisch anspruchsvoll seit Monaten nicht weiß, ob er in die Luft fliegen soll oder nicht.

Im Laufe der mehrstündigen Autofahrt ringt das Schwein im Sack wiederholt um Atem und bäumt sich gegen sein Schicksal auf. Doch der Weg durch die kleinen Dörfer mit den traditionellen Holzbauten und den vielen Blumen ist mühselig; die schmalen, kurvigen Strassen bilden eine Aneinanderreihung bösartiger Schlaglöcher. Die Strasse von Langowan nach Palamba frisst sich die Berge hoch, die Täler sind reich an Nelkenbäumen und Kokospalmen. Eine gewaltige Natur, der die Menschen in kleinen Dörfern auf den Bergkämmen ihr Leben abtrotzen; Ochsenkarren statt Autos bestimmen das Bild. Langsam verstehe ich, dass Toar und Lumimuut sich zuletzt in dieser grünen Einöde niederließen, denn nur hier konnte die mythische Minahasa-Urzeit langfristig überleben.

Endlich kommen wir in Palamba an, um unser blutiges Werk zum Wohle der indonesischen Politik zu verrichten. Wir parken unseren Kleinbus vor der kleinen Adventistenkirche, in der die Gläubigen gerade mit Liedern und Gebeten ihren samstäglichen Gottesdienst gestalten. “Hoffentlich grunzt jetzt nicht das Schwein los”, denke ich. Denn wie bei Moslems ist für Adventisten Schweinefleisch ein Brechmittel. Eine solche unfreiwillige Provokation könnte fromm-eifernde Seelen leicht in keifende, gewaltbereite Bestien verwandeln. Doch das Schwein verhält sich im Gegensatz zu uns solidarisch.

Wir schleppen es samt unserer Ausrüstung zum Bach hinunter. Auf der anderen Seite stehen im rechten Winkel ein kleiner chinesischer Tempel in leuchtendem Rot und ein einfacher, weiß getünchter Steinbau, der mit einem schmiedeeisernen Tor und einem in der Mitte offenen Wellblechdach versehen ist. Letzterer verbirgt das Heiligtum der Minahasa. Der Grabwächter öffnet das Tor. Eine Treppe führt zu einem Waruga hinunter. Waruga sind die alten Hockergräber des Minahasa-Volkes. Sie bestehen aus vier aufgerichteten Steinplatten, die ein Rechteck bilden, auf dem ein überdimensionales, geschwungenes Dach sitzt. Die beiden Längsseiten des Steindeckels sind meist reich verziert.

Ehrfurchtsvoll steigen wir zu den Stammeltern hinab. Der Warugadeckel ist mit feuchtgrünem Moos bewachsen. Auf der uns zugewandten Seite des Warugadeckels ist Lumimuut abgebildet, auf der abgewandten Seite Urvater Toar, der in der einen Hand ein Haumesser und in der anderen einen Speer hält. Beide archaisch wirkenden Relieffiguren sind mit gespreizt angewinkelten Beinen dargestellt. Limimuut ist mit einer riesigen, einer Urmutter aber würdigen Vulva versehen; Toars mehr als mythologisch anmutendes Gehänge lässt selbst Europäer erblassen.

Jeder von uns umschreitet andächtig dreimal den Waruga, abschließend legt jeder Mann seine Arme ausgebreitet, in Anbetung verharrend, auf die Toarseite des Warugadeckels; Frauen tun dies auf der Lumimuut-Seite. Jetzt ist die Zeit, einen Herzenswunsch loszuwerden. Unser scheidungsfrustrierter Chauffeur bittet Toar laut um vier Freundinnen, um sein Elend zu vergessen. Die vorwiegend älteren Herren unserer Expedition warnen ihn eindringlich vor dem Stress einer solchen Geliebtenanhäufung. Daraufhin reduziert er sein Begehren auf eine Gespielin. Mein kleiner Sohn, der in zartem Kindergartenalter unserer Gesellschaft gefolgt ist, um seinen Namensgeber kennenzulernen, wünscht sich die Wiederkehr von Toar und Lumimuut.

Nach unserem Wunschkonzert verlassen wir das Heiligtum. Der strampelnde weiße Sack wird geöffnet, ein kleines schwarzes Schwein mit zusammengebundenen Vorder- und Hinterläufen kommt zum Vorschein. Zwischen den Beinen wird eine Bambusstange durchgezogen, damit es sich nicht mehr bewegen kann; zwei Männer tragen es vor die Stufen des Heiligtums. Die beiden Tonaas klären untereinander kurz die Abfolge des Rituals. Dann schreitet Agust Baga mit einem kleinen, breiten Messer auf das Schwein zu. Es folgt eine Anrufung der beiden Spitzenahnen, dann stößt er dem Tier das Eisen ins Herz. Ein letztes Quieken zerreißt die weihevolle Stille im Tal, etwas später kotzt mir mein Sohn vor die Füße. Hellrotes Blut unterläuft den Körper des toten Borstenviehs und sammelt sich in einer Lache vor den Treppenstufen. Mithilfe der mitgebrachten Palmwedel wird die Sau abgesengt, in Stücke zerlegt und in der Küche des Grabwächters für den Verzehr zubereitet.

Inzwischen versammelt sich unsere illustre Ritualgemeinschaft mit gebotenem Ernst im Schatten eines alten Baumes um einen runden, blauen Plastiktisch vor dem Heiligtum. Einer der Plastikstühle muss leer bleiben, durch Klopfen auf die Sitzgelegenheit werden Toar und Lumimuut gebeten, in unserem Kreise Platz zu nehmen. Wer von beiden Stammeltern letztendlich die Einladung angenommen hat, weiß ich leider bis heute nicht. Auf dem Tisch liegt eine geflochtene Opferschale mit Reis, angebratenen Speckschwartenstücken, Nelkenzigaretten sowie einem zusammengefalteten roten und weißen Tuch - die beiden Farben der indonesischen Flagge. Die Schale wird später vor dem Waruga niedergelegt. Auf dem Boden wird in einem irdenen Gefäß Weihrauch verbrannt, eine Bibel liegt ebenfalls auf dem Tisch.

Jetzt kommt der Augenblick, auf den die Anwärterin auf den Vizegouverneursposten schon sehnsüchtig in Kawiley wartet. Die rohe Leber des Schweines kommt auf einem Teller in unsere Mitte. Er kreist in unserer Runde; jeder wirft einen kritischen Blick auf das Organ, dessen Beschaffenheit einen Blick in die Zukunft ermöglichen soll. Nun sind die Tonaas von Kaima und Tumaluntung, die es gemeinsam auf rund 165 Jahre Lebenserfahrung bringen, als Leberinterpretationsspezialisten gefordert. Das Organ wird befühlt, gedreht, angehoben, gewendet, immer wieder erstaunt ein überaus langer Gewebestrang in die Höhe gezogen, die pralle Gallenblase befingert.

Dann kommen die Tonaas zu einem einheitlichen Urteil. Die Politikerin aus Kawiley befindet sich auf einer langen Erfolgsstrasse, ihr familiäres Umfeld ist intakt. Doch in ihrem Umkreis gibt es einen heimtückischen Widersacher, der sich nicht zu erkennen gibt. Die Hausaufgaben für die potenzielle Vizegouverneurin Nord-Sulawesis sind somit klar.

Wir gehen zum gemütlichen Teil der Veranstaltung über. Unsere Mägen werden zum Friedhof des Schweines, wie mein Sohn bemerkt. Der Rattenschnaps - Cap Tikus - lässt das Begräbnis fröhlicher werden. Dabei werden die alten Herren ihren Unmut los, dass das Ambiente und der Zugang zum allerheiligsten Ort der Minahasa von der Provinzregierung nicht gepflegt und somit die alte Religion missachtet werde. Nachdem uns der Grabwächter zum Abschluss noch den Badeplatz von Toar und Lumimuut gezeigt hat, treten wir den Heimweg an. Sollte mein an ihrem Waruga still geäußerter Wunsch in Erfüllung gehen, werde ich nächstes Jahr mit dem größten Schwein, das ich in Kaima auftreiben kann, und mit mindestens zwei Tonaas im Gefolge nach Palamba zurückkehren.

Kategorie(n): Geschichtliches und Völkerkundliches, Gesellschaftliches und Wirtschaftliches, Heiliges und Unheiliges, Indonesisches und Manadonesisches, Tierisches und Pflanzliches

5 Beiträge der Leser

  • Bernd

    // Jun 25, 2009 at 15:45

    Einfach ein toller Reisebericht.
    Mach weiter so…

  • Catja Rüter

    // Jun 25, 2009 at 20:24

    Dieser Beitrag ist doch sehr verwunderlich !! Wo leben wir eigentlich, doch wohl im 21. Jahrhundert!? Muß diese Tierquelerei sein und das vor den Augen von Kindern? Auch der nicht tiergerechte Transport ist empörend! Wie sollen Menschen lernen Respekt vor unseren Mitgeschöpfen zu bekommen, wenn sie teilhaben müssen wie ein Lebewesen über Stunden leidet!! Um danach auch noch bei der brutalen Tötung zuschauen zu mussen. Die Situation im Land ist ja bekanntlich trotz dieser fragwürdigen, verachtenswerten „Tradition“ unverändert.
    Unsere Maegen werden zum Friedhof des Schweines….. sehr geschmacklos .

  • Gerhard Böhmer

    // Jun 29, 2009 at 15:11

    LIeber Markus, ist ja irre, was du erlebst. Jetzt verstehe ich dich erst, dass du in diese Kultur abtauchen musst. Du erfährst und erlebst Sachen, die kein Touri erleben darf. Du bist zu beneiden. Viel Gesundheit und wohlbehaltene Rückkehr wünsche ich dir von Herzen.

  • Herwig

    // Jul 21, 2009 at 09:51

    Lieber Markus,Deine Schilderung ist sehr beeidruckend. Wenn Du Naeheres ueber die schamanistische Leberschau erfahren willst, schau rein in meine Publikationen:
    1. The Strategy of Shamanistic Curing Rituals among the Dayak Benuaq in Borneo, Tribus, Linden Museum Stuttgart 2008, S.83-101
    2.The Shamanic Belian Sentiu Rituals of the Benuaq Ohookng, with Special Attention to the Ritual Use of Plants. Borneo Research Bulletin 2007, S.137-147

  • Anne

    // Aug 16, 2009 at 12:04

    Hallo Markus,

    Mit großem Vergnügen habe ich Deinen Erlebnisbericht gelesen. Man lächelt,aber wer weiß, wie viel Archaisches in unserem abendländischen Christentum weiterlebt. Über Sinn und Unsinn irgendwelcher religiösen Praktiken lässt sich allemal streiten.
    Mögest Du im nächsten Jahr dem Toar meinetwegen mit vier Priestern zwei Schweine leichten Herzens opfern können! Aber bitte, versuche Dich vorerst nicht selbst als Schamane! Das könnte schiefgehen!
    Alles Liebe
    Anne

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