WAHLKAMPF-NACHLESE

Guidos Herzensbildung

von Markus A. Maesel · 07.10.2009 · 3 Kommentare

Als politischer Verwandlungskünstler versetzt mich Guido Westerwelle seit Jahren immer wieder ins Staunen. Vollkommen fassungslos machte er mich jedoch in einem Interview, das er kurz vor der letzten Bundestagswahl gemeinsam der „Rheinpfalz“, Ludwigshafen, und der „Freien Presse“, Chemnitz, gab. „Herzensbildung“ sei die menschliche Eigenschaft, die er am meisten schätze, gab er den Chefredakteuren der beiden Tageszeitungen zu Protokoll. Verstanden hätte ich bei ihm sofort Wertschätzungen wie „Loyalität“, „Pflichtbewusstsein“, „intellektueller Schliff“, „korrektes Auftreten“, „Pünktlichkeit“, „Sachkompetenz“ oder „Fleiß“. Aber Herzensbildung?

Hatte Westerwelle eine Überdosis Kreide geschluckt, um vor der Wahl den bundesdeutschen Geißlein zu zeigen, dass er nicht der böse, neoliberale Wolf ist? Ich habe es trotzdem wie das jüngste Geißlein im Grimmschen Märchen vorgezogen, vor ihm in den Uhrkasten bzw. an den Urnenkasten zu flüchten. Guido als der nette, herzensgebildete Junge von nebenan, der gerne zusammen mit Freunden ein selbst gekochtes Essen bei gutem Wein genießt, überstieg meine Vorstellungskraft.

Wo mag Westerwelle sein Herz im Leben gebildet haben? Bei sozial Schwachen, die in unserer abendländischen Kultur seit 2000 Jahren besonders als Weg zur Herzensbildung empfohlen werden? Hatte er jemals – von seinem Auftritt im Big-Brother-Container einmal abgesehen – Kontakt mit Hartz IV nahe stehenden gesellschaftlichen Gruppen? Womöglich begreift er seinen Slogan „Mehr netto“ ihnen gegenüber als Herzensbildung.

Oder hat Westerwelle in der Wirtschaft und Finanzwelt bei nadelgestreiften Bossen und Boni süchtigen Managern, jammernden Apothekern und anderen Lobbyisten Herzensbildung erfahren dürfen? Oder gar in seiner Freidemokratischen Partei? Fallschirmjäger Möllemann hat sicherlich Guidos Herz mit Kränkungen und Demütigungen verletzt, aber auch gebildet?

Herzensspuren in seiner frühen Biografie? Ließ sich Westerwelle wie die anderen Jugendlichen seiner Generation von gefühlvollen Flower-Power-Liedern am Lagerfeuer mit langem Haar und Parka mitreißen? Nach seinen Angaben ja. Doch eine Moderatorin entlarvte ihn bereits vor vielen Jahren mit der Gitarre in der WDR-Nachtshow „Zimmer frei“ – er konnte keines der Lieder seiner Jugendzeit mitsingen. An romantischen Lagerfeuern in lauen Nächten hat er sein Herz also auch nicht gebildet.

Westerwelle ist seit 2001 Träger des „Ordens wider den tierischen Ernst“. Humor ist zweifellos eine Frucht der Herzensbildung. „Humor ist überwundenes Leiden an der Welt“, stellte einmal der Schriftsteller Jean Paul fest. Doch der Aachener Karnevalsverein verlieh Westerwelle die Auszeichnung weniger für seinen Humor als für seine Schlagfertigkeit. Westerwelles Freude ist mehr im Spaß, der situativen, oberflächlichen Erheiterung, angesiedelt. Politik müsse Spaß machen, lautete sein Credo für den Wahlkampf 2002. Gnadenlos integrierte er seine altbackenen Liberalen in die damalige Spaßgesellschaft. Mit dem Guidomobil tourte er frohgemut durch die Lande und streckte die Sohlen seiner 18-Prozent-Schuhe in die laufenden Kameras. Die legendären Halbschuhe befinden sich inzwischen im Deutschen Schuhmuseum in Hauenstein (Pfalz) hinter Glas, das Guidomobil ist abgewrackt. Auch könnte aufkeimende Herzensbildung im Spaß erstickt worden sein.

Irgendwann gab Westerwelle gar schrill und selbstberauschend seinen ewigen Zweiflern kund, dass „Herzensbildung“ und „Nächstenliebe“ liberale Kategorien seien. Beim Anblick und Hören dieser herzenseingebildeten, neoliberalen Mutter Teresa aus Bonn hätte es dem herzensgebildeten hl. Franziskus von Assisi vor Schreck die Sandalen ausgezogen. Und ich werde aus Verzweiflung und Hilflosigkeit, dass sich die Welt ungesühnt so einen Sch_ _ _ anhören muss, im Speyerer Dom eine Kerze anzünden. Und eine zweite für Guidos Herzensbildung.

Quellen: „Politiker sind nur Treuhänder“. Das Wahl-Interview mit Guido Westerwelle. In: Freiepresse.de vom 11.09.2009 („Herzensbildung“); Böll, Sven: Reform-Reibach-Mythos. Westerwelles verführerisches Steuer-Märchen. In: Spiegel Online vom 25.09.2009; Krauel, Torsten: Durch die Sicherheitsschleuse. Guido Westerwelle, Joschka Fischer. In: Welt Online vom 20.09.2002 (Parka, Gitarre, Flower Power); Westerwelles 18-Prozent-Schuhe. Vision und Wirklichkeit. In: Deutsches Schuhmuseum Hauenstein; Art. „Orden wider den tierischen Ernst“. In: Wikipedia; Pragal, Peter: Die Entdeckung der Nächstenliebe. In: Berliner Zeitung vom 19.06.2000.

Kategorie(n): Gesellschaftliches und Wirtschaftliches

3 Beiträge der Leser

  • Matthias Maesel

    // Okt 8, 2009 at 07:53

    Gut gebrüllt, Löwe !!!

  • Anne

    // Okt 8, 2009 at 09:21

    Hallo Markus,

    was Westerwelle angeht, hält sich auch Deine Nächstenliebe wohl sehr in Grenzen. Vielleicht sollte man den Herren einfach jetzt bei seinem Wort nehmen und Herzensbildung bei ihm als selbstverständlich voraussetzen.
    Er hat ja jetzt die Chance zu zeigen wer und wie er wirklich ist.
    Warten wir’s ab!
    Gruß Anne

  • Gerhard Böhmer

    // Okt 11, 2009 at 09:56

    Lieber Markus,
    Dein Webblog ist einfach genial. Ich lese ihn regelmäßig und die Aussagen über Guido müssen am Ende der Legislaturperiode nochmals kritisch überprüft werden. Jedenfalls finde ich es super, dass die Große Koalition vorbei ist und endlich schnelle Entscheidungen getroffen werden können. Und wenn Schwarz-Gelb nicht unseren Vorstellungen nicht nachkommt, haben wir in 4 Jahren wieder die Möglichkeit sie abzuwählen und stehe dafür bereit. GRINS.

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