GESPENSTISCHE FANTASIEN

Tsin, du Wunderbare

von Markus A. Maesel · 15.02.2010 · 2 Kommentare

Es ist Nacht. Das gelbliche Licht der Straßenlaternen dringt durch die Rollladenschlitze. Ich wälze mich im Bett von rechts nach links und wieder zurück; drehe, wende und zerknautsche das Kissen, ohne für meinen Kopf die passende Lage zu finden. Einmal wach, kann ich nicht mehr einschlafen. Und wieder höre ich in mir diese Fistelstimme ihren geheimnisvollen, surrealen Refrain singen:

„Tsin, du Wunderbare,

kämm die grünen Haare,

auf der Dauerwelle

reiten wir zur Hölle“.

In fast 40 Jahren hat sich diese Stimme mit ihren aufregend düsteren Paarreimen immer wieder bei mir gemeldet, meist unregelmäßig nach längeren Zeiträumen, dann aber stets über Wochen als Ohrwurm verbleibend. Und heute Nacht ist sie wieder zurückgekehrt, obwohl die vermeintliche Geisterstunde längst überschritten ist. Geisterstunde ist auch das weiterführende Stichwort und der Weg, wie sich die nebulöse Tsin in meinem Innern festsetzen konnte.

Beginnen wir von Anfang an. Aus dem Bestand meiner Tante hatte ich mir als Grundschüler ein Buch einverleibt, dessen Vorderseite ein behaarter Totenkopf ziert und auf dessen Rückseite ein Geisterschiff voller schwarzer Katzen, mit Totenschädel über dem Mastkorb und einem Erhängten am Bug, durch die Mond beschienene, stille See treibt. Auf den Innenseiten des Einbandes wimmelt es in Totenköpfen von Kröten, Schlangen und Insekten. Diese martialische Aufmachung fasziniert mich, ehrlich gesagt, bis heute. Das Werk, mit dem im Gegensatz zur bildlichen Gestaltung braven Titel „Gespensterbuch für Jungen“, hat unverändert einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal. Dieser Sammelband aus einer Zeit, als es noch Gespenster statt Horrorfiguren, Monster und intergalaktische Bösewichte gab, ist inzwischen vom vielen Lesen abgegriffen, sein Rücken geklebt und die Seiten sind vergilbt. Mehr als 50 Jahre hat es auf dem Buckel, wie der Eintrag „3. Auflage 1958“ verrät.

Meine schicksalhafte Begegnung mit Tsin erfolgte in der Erzählung „Der Wahnsinn des Dr. Ho-tschi-min“ von Willibald Buchmann, die sich im letzten Drittel des Bandes befindet. Darin stellen sich die beiden in Hamburg lebenden Freunde Kuki und Makko einer Mutprobe, bei der sie spätabends abseits der Reeperbahn – „oberhalb des Rummelplatzes, weit hinter den Ringkämpferlokalen und Hippodromen“ – ein verwinkeltes, heruntergekommenes Viertel mit dunklen, engen Gassen durchqueren müssen, in dem jeder Stein Kriminelles und Gespenstisches atmet. Vor einer Gruppe unheimlicher Gestalten fliehen sie in den Flur eines beleuchteten Hauses, über dessen Tür ein grüner Lampion und ein Schild mit der fast schon zu erwartenden Aufschrift „Zur grünen Laterne“ prangen. Und dort hören sie erstmals eine dünne Stimme singen, der „erbärmliches Gelächter aus schwachen Kehlen“ folgt:

„Tsin, du Wunderbare,

kämm die grünen Haare,

auf der Dauerwelle

reiten wir zur Hölle“.

Ein kleiner Chinese mit Zopf empfängt sie mit der Bemerkung, dass er sie schon erwartet habe. Zischend gebietet er den im Haus widerhallenden Tsin-du-Wunderbare-Gesängen Einhalt. Er stellt sich Kuki und Makko als Dr. Ho-tschi-min vor und möchte ihnen seine einzigartige Bildersammlung zeigen. Sie folgen ihm durch einen Raum voller schlafender Menschen. Aufgrund des „dicken, widerlich-süßen Miefs“ glauben sie, in einer Opiumhöhle gelandet zu sein. Dahinter schließt sich ein dunkles, schlauchförmiges und möbelloses Zimmer an, in das sie der Chinese führt. Im schwachen Schein der Petroleumlampe sehen Kuki und Makko, dass die Wände mit lauter Bildern behängt sind, die Totenzimmer, Leichenhallen, Begräbnisse und Hinrichtungen zeigen. Sie gehen durch eine weitere Tür in ein kleines Gemach, in dem auf einem gemauerten Podest eine Bahre steht, auf der eine mit einem Tuch bedeckte Leiche liegt. Die beiden Jungen werden nervös. Im schmalen, mit einem Spitzbart versehenen Gesicht ihres Gastgebers nehmen sie zwei Augen wahr, in denen der Wahnsinn blitzt.

Auf einer metallenen Fläche an der Wand ist ein Bild mit Bahre, aber ohne Leiche befestigt. Selbst die größten Künstler könnten keine echt wirkenden Leichen malen, erläutert der chinesische Doktor den Jungen sein Problem. Er zieht an einer Schnur, mit lautem Getöse verschwindet die Leiche durch ein schwarzes Loch im Sockel und findet sich im Bild auf der Bahre wieder. Dieser „Transmissionator“ sei seine eigene Erfindung, bekundet er den Jungen in Bescheidenheit. Er hängt das Bild ab und ersetzt es durch ein Gemälde mit einem leeren, kleinformatigen Sarg. Es sei sein schönstes Bild und die beiden Buben hätten die passende Körperlänge für das Objekt, bekundet er ihnen. Dr. Ho-tschi-min schleudert daraufhin Kuki in den noch saugenden Transmissionator, mit gellendem Schrei verschwindet er in der Maschine. In diesem Augenblick ereilt den über den Transmissionator gebeugten Chinesen ein Fußtritt von Makko und er stürzt ebenfalls in die Höllenmaschine. Makko schaltet den Apparat ab und schaut auf das Bild – in dem Sarg liegt Dr. Ho-tschi-min „mit einem eingefrorenen Grinsen auf den Lippen“. Makko zerschneidet das Bild mit seinem Taschenmesser und eilt los, um die Polizei zu holen. Als er den Raum mit den vermeintlich berauschten Opiumsüchtigen durchquert, stellt er fest, dass die herumliegenden Menschen bereits vor geraumer Zeit erdrosselt wurden und der süßliche Geruch von der Verwesung stammt. „Tsin, du Wunderbare …“, tönt es erneut von irgendwo her.

Auf der Treppe trifft er Kuki, der beim Fall in den Transmissionator dessen Sicherung in die Hand bekam und sie herausdrehen konnte. Als der Chinese an ihm vorbei rutschte, drehte er die Sicherung wieder hinein und flüchtete durch die Kellerluke. Beide Jungen begeben sich zur Polizei, die jedoch das Lokal „Zur grünen Laterne“ nicht mehr auffinden kann. Doch auf der Straße ist noch lange die altbekannte Weise zu hören:

„Tsin, du Wunderbare,

kämm die grünen Haare,

auf der Dauerwelle

reiten wir zur Hölle“.

„Der Wahnsinn des Dr. Ho-tschi-min“ ist die einzige Gespenstergeschichte, die es schaffte, mir als Jungen den kalten Schauder über den Rücken zu jagen. Gleichzeitig ließ sie in meinem Leben die quälende Frage offen: Wer ist Tsin?

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich schrieb ein E-Mail an den Verlag, der das Gespensterbuch herausgegeben hatte, und versuchte Informationen über den Autor Willibald Buchmann zu bekommen oder eine Adresse, falls er noch lebte. Vor meinem geistigen Auge sah ich einen rapide zerfallenden Greis in einem Altenpflegeheim, der nur noch lebte, weil er mit dem letzten Atemzug einem treuen Leser Tsins Geheimnis als sein Vermächtnis weitergeben wollte. Doch der Verlag antwortete nicht und ließ mich in meinen Qualen alleine.

Daraufhin stürzte ich mich in die Textanalyse und die Recherche. Chinesen in Hamburg während der 1950er Jahre? Was die wenigsten wissen: Hamburg hatte eine eigene Chinatown. 2000 bis 3000 Chinesen strömten in den 1920er Jahren in die Hafenstadt. In St. Pauli entstand direkt an der Reeperbahn, zwischen Talstraße und Großer Freiheit, ein Chinesenviertel. Dieses wurde am 13. Mai 1944 im Rahmen der „Chinesenaktion“ durch die Nazis ausgelöscht. Das mysteriöse Wirtshaus „Zur grünen Laterne“ als Anklang an diese Zeit? Tsin und Dr. Ho-tschi-min als Überlebende oder Rachegeister dieser Epoche? Verrückt und grausam geworden durch das Erlebte? Spekulationen.

Doch vielleicht führt der wahnsinnige Dr. Ho-tschi-min zu Tsin. Sein Zopf weist ihn als konservativen Chinesen aus, der mit seinem Denken noch in der Tradition der Mandschu-Kaiser verhaftet ist. Sein Aussehen – kleiner Wuchs, schmales Gesicht mit Fadenbart – und sein Name verweisen hingegen auf Ho Chi Minh, den kommunistischen Vietminh-Führer und ersten Präsidenten Nordvietnams. Warum stellte Autor Willibald Buchmann diese Parallele her? Da das Gespensterbuch im stramm-katholischen Verlag Haus Altenberg erschienen ist, ist anzunehmen, dass Buchmann in diesem konfessionellen Milieu auch seine Wurzeln hatte. Kommunismus, besonders wenn er erfolgreich war, musste in diesem Kontext wahnsinnig und diabolisch sein. Hier spiegelt sich die antibolschewistisch-katholische Kreuzzugsmentalität des 20. Jahrhunderts wider. Vielleicht lag Buchmann 1954 bei der Schlacht von Dien Bien Phu, die mit dem Sieg der Vietminh die französische Kolonialzeit in Vietnam beendete, als Fremdenlegionär im Schützengraben und musste nun sein Trauma literarisch abarbeiten? Der Text an sich zeugt von einem Nicht-Verhältnis zwischen Dr. Ho-tschi-min und Tsin. Er singt die geheimnisvollen Verse nie mit, bringt deren Sänger gar mit einem Zischlaut zum Schweigen. Warum diese Distanz? Hat der wahnsinnige Chinese gar die holde Tsin auch durch den Transmissionator gejagt und in einem seiner morbiden Bilder verewigt?

Möglicherweise war Tsin aber auch eine halbseidene Opium-Queen mit grüngefärbtem, dauergewelltem Bubikopf, in knappem, schwarzem Charleston-Kleid, mit schwarzen, durchbrochenen Strümpfen, ihre schmalen Lippen lasziv an einer bernsteinfarbenen Zigarettenspitze saugend … ich darf meinen Fantasien nicht weiter nachgeben, und als Familienvater schon gar nicht. In China gibt es für Drogensüchtige im Rausch die Bezeichnung „auf dem Drachen reiten“. Vielleicht verfügte Tsin über eine spezielle Opiummischung, die ihre Kunden stattdessen „auf der Dauerwelle reiten“ ließ? Mit grünen Haaren in der „Grünen Laterne“.

Ich suchte Parallelen zu Tsin. Verzweifelt streifte ich durch Chinesenviertel in Singapur, Malaysia und Indonesien, durch die Chinatown von Amsterdam. Aber statt Tsin der Wunderbaren begegnete mir dort lediglich Suzie Wong. Und die war nicht gewohnt, auf Dauerwellen zu reiten.

Ich bin am Ende meiner erfolglosen Suche angelangt, und bis zu meinem Lebensende wird wohl als unerfüllte Sehnsucht in mir widerhallen:

„Tsin, du Wunderbare,

kämm die grünen Haare,

auf der Dauerwelle

reiten wir zur Hölle“.

Literatur: Willibald Buchmann: Der Wahnsinn des Dr. Ho-tschi-min. In: Klaus Franken: Gespensterbuch für Jungen. Düsseldorf: Verlag Haus Altenberg, 3. Auflage 1958, S. 208-215; die beiden ersten Auflagen erschienen 1949 und 1953, 1962 nochmals eine vierte Auflage. – Hanna Huhtasaari: Hamburgs vergessene Chinatown: Opium und Pils vom Fass. In: Eines Tages, Zeitgeschichten auf Spiegel Online, vom 6.09.2008

Kategorie(n): Ausgekramtes und Entdecktes, Makaberes und Skurriles

2 Beiträge der Leser

  • Heriman

    // Feb 17, 2010 at 08:57

    Hallo,

    möglicherweise könnte auf http://www.pekingesen.org/ eine Lösung zu finden sein. Tsin-Ling-Schan sind die typischen chinesischen Palasthunde, deren Fell sich durch besonders lange und pflegebedürftige Haare auszeichnet.

    Warum diese Haare aber in der Geschichte grün sind, wird ein Rätsel des Autors bleiben.

    Vielleicht war der Pekinese auch schon etwas überlagert, so wie die Opiumsüchtigen im Vorraum?

    Viele Grüße,
    Heriman

  • Tapir in der Nacht | Weltgeflüster

    // Apr 14, 2014 at 21:25

    […] [Quellen: Im Regenwald. Mit Reimen von Salah Naoura und Bildern von Paul Hess. Mannheim 1999 (= Meyers kleine Tierwelt); Max Picard: Die Welt des Schweigens. München 1988 (Erstausgabe Zürich 1948), S. 224; Brehms Tierleben. Allgemeine Kunde des Tierreichs. Die Säugetiere. 3. Band, 3. Auflage Leipzig/Wien 1900, S. 94 (vgl. auch Text online). – Zum Thema Paarreime und Schlaflosigkeit siehe hier auf Weltgeflüster auch „Tsin, du Wunderbare“]. […]

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