KOKOSNUSS ALS RELIGION

Kokovorismus

von Markus A. Maesel · 23.02.2010 · 5 Kommentare

Dass in einer Verbindung von Kokosdiät, Sonne und Nudismus die Erlösung der Menschheit liegen soll, hätte sich der für unsere Breiten zuständige Sinnstifter Jesus von Nazareth nie träumen lassen. Doch genau das propagierte in seinem „neuen Evangelium“ der Nürnberger August Engelhardt (1870/75-1919). Kokovorismus nannte er sein Heilsangebot an die Menschheit. Wie fand der Mitteleuropäer den Weg zur religiösen Dimension der Kokosnuss?

Der frühe Werdegang des Sohnes aus begüterter Unternehmerfamilie ist strittig. Nach einer Quelle verließ er vorzeitig das Gymnasium und absolvierte eine Lehre als Apothekenhelfer. Nach anderen Angaben studierte er Physik und Chemie in Erlangen. Zunehmend interessierte er sich für „reines Naturleben“, das auf den beiden Säulen vegetarische Ernährung und Nudismus beruhte. Als fleischverachtendem Nackedei wurden ihm schnell die Moralvorstellungen des Wilhelminischen Kaiserreiches zu eng. Er setzte sich daher 1902 in die deutsche Kolonie Neuguinea ab und kaufte dort einen Großteil der zwei Kilometer langen und 700 Meter breiten Insel Kabakon, die zur Neulauenburg-Gruppe (heute Duke of York Islands) gehört.

Auf dem vollständig mit Kokospalmen bepflanzten Eiland, in einer luftigen Holzhütte mit Veranda und einer 1200 Bände umfassenden Bibliothek, kreisten die Gedanken des hüllenlosen Engelhardt immer mehr um die Sonne und die Kokosnuss. Er griff dabei auf den Kokovorismus zurück, eine erstmals auf Kuba praktizierte Lehre, nach der Kokosnüsse als Früchte, die der Sonne am nächsten wachsen, die natürlichste Nahrung der Menschen seien. Bald gelang ihm in seinen Betrachtungen der Übergang von der Lehre zur Religion. „Nackter Kokovorismus ist Gottes Wille. Die reine Kokosdiät macht unsterblich und vereinigt mit Gott“, lautete seine Quintessenz, sein von kokogenialem Enthusiasmus getragenes Credo.

Allerdings beruhte für ihn die Ernährung des Gehirns nicht auf Kokosnussbasis. Das Gehirn war für Engelhardt das edelste Organ, da es der Sonne am nächsten ist. Es könne daher nicht von einem tiefer liegenden und daher schmutzigen Körperteil wie dem Magen-Darm-Kanal ernährt werden. Seine Nahrung beziehe das Gehirn daher über das Sonnenlicht, das über die Haarwurzeln eingesogen werde. Keine Frage, dass für dieses frühe Solarzellen-Konzept Kopfbedeckungen hinderlich waren.

Doch was ist ein Religionsstifter ohne Gemeinde, die seinen Worten lauscht? Er plante daher auf Kabakon eine Gemeinschaft, die er „Sonnenorden – äquatoriale Siedlungsgesellschaft“ nannte. Missionarisch versandte er Schriften mit seinen Ideen nach Europa. Bis zu 30 Zivilisationsmüde sollen seinem Ruf ins kokovore Nudistenparadies gefolgt zu sein. Doch Todes- und Unglücksfälle, Krankheiten und Ernüchterung störten immer wieder die Gemeindebildung.

Im Gegensatz zu Jesus von Nazareth wurde dem „Kokosapostel“ Engelhardt in dieser Ölberg-Situation jedoch Hilfe zuteil. Sein Freund und geistiger Mitstreiter, der Naturschriftsteller August Bethmann, traf auf Kabakon ein. Beide schrieben ihre Heilige Schrift für eine zukünftige Jüngerschar nieder, mit dem ohne von Selbstzweifel geplagten Titel „Eine sorgenfreie Zukunft Das neue Evangelium. Tief- und Weitblicke für die Auslese der Menschheit“, von der 1906 bereits eine fünfte Auflage vorlag. Sie preist die „allgütige Sonne“ als ihren Gott; den „kokovoren Sonnenmenschen“ als mit ihm in Harmonie und an der frischen Luft lebendes, ideales Geschöpf. Die Kokosnuss wird als „der Stein der Weisen“ gefeiert. „Was sind Universitäten gegen eine solche Lebensweise?“

Doch die Kokosdiät vereinigte Engelhardt nicht mit seinem Sonnengott, sondern brachte ihn stattdessen entkräftet, mit Krätze und Hautgeschwüren versehen, in das deutsche Kolonialkrankenhaus nach Herbertshöhe (Kokopo). Für die Anhänger anderer Diäten sei erwähnt, dass Engelhardt zu diesem Zeitpunkt bei 1,66 Meter Körpergröße nur noch 39 Kilogramm wog. Mühsam wurde er im Hospital mit Fleischkraftbrühe wieder hochgepäppelt.

Inzwischen kamen seinem Jünger Bethmann Zweifel an der Heilslehre des Kokosgurus und am Paradies Kabakon. Er wollte mit dem nächsten Dampfer Neuguinea verlassen. Doch seiner Selbstvertreibung aus dem Garten Eden kam der Tod zuvor. Die Ursache seines Ablebens bleibt in „mysteriösem Dunkel“. Kam es zu einer handfesten, kokotheologischen Auseinandersetzung mit dem Religionsstifter? Entwickelte sich ein Drama wegen Bethmanns Braut, der Stuttgarterin Anna Schwab, die dieser auf die Insel nachgeholt hatte?

Im Malaiischen, das auch an den Küsten Neuguineas gesprochen wurde, bezeichnet man eindrucksvolle Oberweiten als „kelapa“ – Kokosnüsse. Brachten nichtfrugale Kokosnüsse das rein geistige Streben nach menschlicher Veredelung in höheren Kokossphären durcheinander und störten die Kokodynamik auf der Insel? Kokogenialität versus Kokogenitalität unter Kokospalmen? Ein Aufbäumen gegen die Kokotonie in der Südsee? Jedenfalls beschuldigte Kokosmessias Engelhardt die hinterbliebene Kokosmuße, ihren Partner getötet zu haben, weil sie ihm andere tropische Früchte als die Kokosnuss zu essen gegeben habe. Eva und die Versuchung im Paradies. Abweichungen von der reinen Lehre haben in jeder Religion ihre grausamen Folgen. Kurz nach dem Ereignis reiste die Kokosvenus von Kabakon (oder besser Kokokon?) ab.

Engelhardt blieb unbeirrt als einsamer Prediger in seinem solar-fruktivorischen Wolkenkokosheim zurück. Er stemmte sich gegen den Fall in die Bedeutungslosigkeit und flüchtete in kokoimperialen Größenwahn. In weiteren Werbeschriften propagierte er, ein „internationales tropisches Kolonialreich des Fruktivorismus zu begründen, in dem er [der Sonnenorden] um den ganzen Äquator ein engmaschiges Netz von Kolonien reinen, nackten, fruktivorischen Lebens legt. Der Sonnenorden wird zunächst Kabakon besiedeln, von da aus den Bismarck-Archipel, dann Neuguinea und die Inseln des Stillen Ozeans, schließlich das tropische Zentral- und Südamerika, das tropische Asien und das äquatoriale Afrika. Ich fordere alle Fruktivoren und Freunde der naturgemäßen Lebensweise auf, mitzuhelfen bei dem Bau des Palmentempels des Fruktivorismus, den es aufzurichten gilt, mitzuwirken bei der Gründung des fruktivorischen Weltreichs. … Mutig voran, den Blick auf die Sonne, den Urquell des Lebens!“

Diesem kokomanischen Aufbäumen folgte das totale Kokowabohu, ab 1909 hielt Engelhardt physisch und psychisch entkräftet die Idee von seinem Sonnenorden auf Sparflamme. Er wollte sich nun verstärkt seiner Kokospflanzung und seinen kokosophischen Studien widmen. Der Kokophile begann eine zweimonatliche Zeitschrift herauszugeben, mit dem kokoeuphorischen Titel „Für Sonne, Tropen u(nd) Kokosnuss! Zeitschrift für den Gottesdienst der Tat und für die Unsterblichkeit oder was dasselbe ist: für wahrhaft naturgemäße Lebensweise; Organ des Sonnen-Ordens, Äquatoriale Siedlungs-Gesellschaft auf Kabakon und des Intern(ationalen) Kokovoren-Bundes“. Ein früher Fernkurs für Kokospiritualität.

Für den aufkommenden Südseetourismus wurde Engelhardt zur begafften Attraktion – als kokophages Kuriosum in einer ihn umgebenden, mehr anthropophagisch orientierten Inselwelt. Der frühe Ritter der Kokosnuss verstarb 1919 auf Kabakon und soll auf dem Inabui-Friedhof auf Mioko begraben worden sein. Von seiner letzten Ruhestätte sind keine Spuren erhalten.

August Engelhardt war nicht einfach ein Aussteiger und Inselneurotiker unter Kokospalmen. Seine einzelnen Ideen sind zwar kokovorer Kokolores, aber faszinierend in der Geschlossenheit des Gedankensystems. Er verkörperte in seinem Kokozentrismus die absolute Freiheit, die sich nicht von Nebensächlichkeiten wie biologischen Gegebenheiten, Naturgesetzen und einen auf den Ersten Weltkrieg zusteuernden Planeten einengen ließ.

Zum Abschluss und Engelhardt zum Gedenken soll nochmals seine kokovisionäre, literarisch wertvolle Sentenz in Erinnerung gerufen werden, bei der man sich jedes Wort wie ein Stück klebriges Bounty auf der Zunge zergehen lassen sollte: „Nackter Kokovorismus ist Gottes Wille. Die reine Kokosdiät macht unsterblich und vereinigt mit Gott“.

Literatur: Dieter Klein: Neuguinea als deutsches Utopia: August Engelhardt und sein Sonnenorden. In: Hermann Joseph Hiery (Hg.): Die deutsche Südsee 1884–1914. Ein Handbuch. Paderborn/München/Wien/Zürich 2001, S. 450-458 u. Abbildung Nr. 73; eine Zusammenfassung des Beitrags findet sich unter „August Engelhardt“ in der Wikipedia. Zu Kleins Forschungen vgl. Jan Grossarth: Die Retter der Kokosnuss. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 174 vom 30.07.2009, S. 7. – Abweichende und widersprechende Angaben finden sich bei Karl Baumann/Maxwell Hayes: August Engelhardt – New Guinea’s first white nudist. In: Una Voce. Journal of the Papua New Guinea Association of Australia Inc (formerly the Retired Officers Association of Papua New Guinea Inc) Nr. 2, Juni 2005, S. 37-39 . – Folgende Masterarbeit lag mir nicht vor: Sven Mönter: August Engelhardt’s „Sonnenorden“ Colony on Kabakon Island, New Guinea, 1906-1923. University of Auckland (Neuseeland) 2004; vgl. hierzu Asia Pacific Week 2005 Pacific Islands Workshop – Abstracts, S. 24.

August Engelhardt auf Kabakon im Jahre 1911 – Foto: E. A. Hurry

(Foto wird gemäß dem Australian Copyright Council (ACC) genutzt).

Kategorie(n): Ausgekramtes und Entdecktes, Genüssliches und Anregendes, Heiliges und Unheiliges, Makaberes und Skurriles, Tierisches und Pflanzliches

5 Beiträge der Leser

  • Anne

    // Feb 24, 2010 at 10:18

    Hallo Markus,

    habe den Artikel mit Vergnügen gelesen. Warum schreibst Du nicht mal ein Buch in der Art über spleenige Heilsverkünder? Dies wäre auf jeden Fall ein Geschenk des Lächelns für die Menschheit.
    Schreibe Dirgleich noch eine E-Mail.

    Alles Gute Dir!

    Anne

  • Herwig

    // Feb 24, 2010 at 13:07

    Humorvoll, kenntnis- und phantasievoll geschrieben.Eine Lust, es zu lesen. Eine literaische Kokophonie. Aber Vorsicht: Kokosoel beinhaltet nur vollsaturierte Fettsaeuren.

  • Heriman

    // Feb 26, 2010 at 06:48

    Hallo,

    “Die Affen rasen durch den Wald, der eine macht den andren kalt. Wer hat die Kokosnuß geklaut…”

    Jetzt endlich kenne ich den Hintergrund dieser Fahrtenliederschnulze.

    Besten Dank dafür. Auch für die vielen gelungenen Wortspiele.

    Viele Grüße.
    Heriman

  • Helga

    // Feb 27, 2010 at 16:43

    Warum treibt FKK solche Blüten? Es ist doch das Natürlichste und Schönste auf der Welt einfach von Allem “befreit” zu sein.
    Gruß
    Helga

  • Markus A. Maesel

    // Apr 18, 2012 at 17:19

    Der Japaner Masafumi Nagasaki (76), nackter Inseleremit seit 20 Jahren, könnte als geistiger Nachfahre August Engelhardts gelten: http://www.welt.de/vermischtes/article106196725/Japaner-76-lebt-als-nackter-Eremit-auf-Insel.html

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