BEGEGNUNGEN IN STUTTGARTER VERKEHRSBETRIEBEN

Welche Sprache? Welches Land?

von Kristian Bäthe · 27.07.2010 · 1 Kommentar

Welche Sprache? Welches Land?

Begegnungen in Stuttgarter Verkehrsbetrieben.
Kleiner Beitrag zu einer Soziologie der globalen Flugzeuggesellschaft.

Im Degerlocher Buswartehäuschen sitzt eine Mongolin, die in Erlangen an einem Studienkolleg für Wirtschaft teilnimmt. Sie war auf Kamelen durch die Wüste geritten in der Mongolei. Wir unterhalten uns über eine spannende Erzählung von Alfons Paquet, die in der Mongolei spielt: „Der Knecht“ aus „Erzählungen an Bord“ (1913).

Am Hauptbahnhof stoße ich auf eine Chinesin, die eine Hochschule in Kremsmünster in Österreich besucht, das durch sein Kloster berühmt ist.

Am Sonntag früh 5.14 steht an der Haltestelle ein großer schlanker junger Mann. Ich sage im Dunkeln „Guten Morgen!“ Keine Antwort. Er zittert. Als er meine warme Jacke sah, überkam ihn ein Kältegefühl. Er habe im Auto übernachtet. Sein Auto steht in der Garage seiner Freundin. Sie hatte damit einen Unfall. Sie war gegen einen Stein gefahren, Reparaturkosten ca. 2000 Euro. Also lassen sie das Auto stehen. Weil die Schwester jetzt heiratet, wird Geld gebraucht. Er ist Ungar, 22 Jahre alt, von Beruf Raumgestalter. Ich sage „Ungarn sind doch feurig!“ „Ja, weil sie Paprika essen.“ Die Raumgestalter haben viel Arbeit. Aber er lebt seit zwei Monaten zu Hause, weil die Firma keinen Auftrag hat.

Früh am Morgen stehe ich auf dem Bahnhof in Echterdingen. Kein Mensch ist zu sehen. Doch, ein junger Mann. Er ist Pole aus Stettin und arbeitet hier auf einer Baustelle. „Was gefällt Ihnen in Echterdingen am besten?“ „Die Kirche!“ antwortet er prompt.

Ich sitze in der S-Bahn neben einer Afrikanerin mit gebündelten Haaren. „Sind Sie aus Äthiopien?“ „Nein!“, „Aus Eritrea?“, „Nein!“, „Gar nicht aus Afrika?“ „Doch!“, „Ja, woher denn?“, „Aus Kamerun!“ Sie betont auf der letzten Silbe. Die Chinesen auf der gegenüberliegenden Seite lachen wohlwollend, ob meiner Bemühung. Sie steigt an der Uni aus mit viel Gepäck.

Im Fahrstuhl des Degerlocher U-Bahnhofs belehrt mich eine große Schwarze mit Pferdeschwanz und schwungvoller Nase in akzentfreiem Deutsch, wo ich drücken muß. „O“ bedeutet hier nämlich ausnahmsweise „Oben“. Ich schaue sie an und frage „Sind Sie aus Kamerun?“ „Nein, aus Togo!“ und schon war sie aus dem Fahrstuhl raus.

In der S-Bahn sitzt mir gegenüber eine Mutter mit einem deutschsprechenden Sohn. „Sind Sie vielleicht Japaner?“ „Nein, Chinesen!“ Sie lebt bereits seit 20 Jahren in Deutschland. Ihr Sohn wurde hier geboren. Ihr Mann ist Ingenieur in der Auto-Zulieferindustrie. Sie stammt aus der Gegend von Peking. Wir unterhielten uns über die neuen Brennstoffzellen-Autobusse, die von dort verlangt werden, über chinesische Schrift u. a. – Anschließend kaufe ich mir am Hauptbahnhof eine chinesische Zeitung. Auf der Titelseite Hammer und Sichel. (Sieh da, die lang Entbehrten). Aber hinten: Oh la, la! Mehr sage ich nicht.

Am Wartehäuschen in Degerloch frage ich eine Schwarze: „Welche Sprache sprechen Sie?“ Sie spricht kein Deutsch, stammt aus Ghana. „Kollegin! Kollegin!“ Sie läuft hinaus und holt eine Kollegin, die etwas deutsch sprechen kann. „Spricht bei Ihnen jeder Stamm eine andere Sprache?“ „Ja!“ Sie nickt lebhaft. Nach Fischers Weltalmanach 2000, Spalte 303, werden in Ghana ca. 75 Sprachen gesprochen. Die zehn wichtigsten werden einzeln genannt.

Haltestelle Echterdingen im Wartehäuschen: Auf der Bank sitzt eine Mutter mit kleiner Tochter. Die Mutter hat nur noch wenige Zähne. Sie kommt aus Uganda, direkt aus dem Busch. Ich gehe bei ihr in die Schule.

Ebenda steht eine schöne Schwarze mit ebenmäßigem Gesicht und glatter Haut. Sie stammt aus Eritrea und lebt schon seit 30 Jahren in Deutschland. Sie wollte nur mal schauen, wo sie früher gewohnt hatte.

In der Eisenbahn: Zwei Damen unterhalten sich in einer hellklingenden Sprache, die ich noch nie gehört habe. „Entschuldigen Sie bitte, welche Sprache sprechen Sie?“ „Vietnamesisch!“ Sie ist Sprachlehrerin und erteilt Unterricht in Vietnamesisch.

Zwei hübsche Afrikanerinnen unterhalten sich angeregt. „Bitte, welche Sprache sprechen Sie?“ „Eriträisch!“ Sie hatte den Kopf nur für eine halbe Sekunde zur Seite gewendet und spricht weiter auf eriträisch.

Auf der Fahrt zum Flughafen begegnet mir ein ungewohnter Herr: nicht bronzefarben, nicht hellbraun, nicht dunkelbraun, sondern schwarz, schwarz wie Ebenholz. „Sind Sie aus Tansania?“ „Nein!“ Mit einer Handbewegung wischt er alles Afrikanische weg. Er komme aus Brasilien. „Aus São Paulo?“ „Ja, richtig, aus São Paulo.“ „Kennen Sie Curitiba?“ „Nein!“ Er überlegt. „Sie meinen wohl Curitiba?“ – „Ja!“ Ich hatte die zweite Silbe betont, statt der vorletzten. Er fuhr fort: „Das ist eine große Stadt, die überwiegend von Deutschen bewohnt wird seit vier Generationen. Die Beschilderung ist dort zweisprachig: brasilianisch und deutsch.“ „Dann war es ja kein Zufall“, sagte ich, „dass deutsche Forstleute dort eine Forschungsstelle eingerichtet haben.“

An der Haltestelle steht ein großer Farbiger. Er hatte Zeitungen ausgetragen in Vertretung. Aber er stammt nicht aus Afrika, sondern aus Brixton, dem Schwarzenviertel Londons.

Ebenda wartet an der Haltestelle ein disziplinierter Inder. Es ist ein Sikh aus Nordindien, wo die Polizisten herkommen.

In der S-Bahn frage ich einen großen Afrikaner mit kleinem Sohn und gebündeltem Haar, ob er aus Eritrea stamme? Mit seiner, fast singender Stimme antwortet er lächelnd: „Aus Äthiopien!“

In der Eisenbahn unterhalten sich zwei Damen in einer dunkelfarbigen Sprache. „Sprechen Sie litauisch?“ „Nein, dänisch! Aber wir liegen ja auf demselben Breitengrad!“

Im Omnibus Richtung Stetten sitzt vor mir ein Ehepaar in lebhafter Unterhaltung. „Sprechen Sie koreanisch?“ „Nein!“, „Japanisch?“ „Ja!“ Sie steigen bei ihrem Tagungshotel aus.

Auf der Fahrt nach Herrenberg glaubte ich den Inhaber eines China-Restaurants vor mir zu haben. Aber der Herr fragte, ob es in Herrenberg Fachwerkhäuser gäbe. „Oh ja, sehr schöne sanierte Fachwerkhäuser rund um den Marktplatz und in den Seitengassen mit dem Geburtshaus des Renaissance-Baumeisters Schickhardt!“ Er war offensichtlich ein japanischer Unternehmer, der hier seinen Urlaub verbrachte.

In der Eisenbahn sitzt eine koreanische Handballerin. Sie sagt: „Stuttgart ist eine schöne Stadt!“

Ein Chinese, der mir gute Ratschläge gibt, wie man die richtige U-Bahn erwischt, meinte: man müsse reisen, um sich zu bilden, um zu sehen, wie’s andere machen. Ich entgegnete, daß ich überhaupt nicht reise. „Wenn ich die Welt kennenlernen will, dann steige ich in die S-Bahn. Da lerne ich alle Völker der Erde kennen!“

[Kristian Bäthe, Jahrgang 1929, arbeitete als Buchhändler, Antiquar, Redakteur für Fachbibliographien, Archivar und Bibliothekar. Daneben trat und tritt der Bücherfreund und Liebhaber von Frakturschriften immer wieder als Autor auf. Den vorliegenden Gastbeitrag veröffentlichte er zuerst 2003 als privaten Sonderdruck in einer Kleist-Fraktur von Walter Tiemann 1928. Leider lässt sich diese Frakturschrift auf Word Press nicht darstellen].

Kategorie(n): Geschichtliches und Völkerkundliches, Kurpfälzisches und Südwestdeutsches, Mobiles und Zugiges

1 Beitrag der Leser

  • Markus A. Maesel

    // Okt 18, 2013 at 11:31

    Autor Kristian Bäthe ist am 6. Oktober 2013 verstorben (zur Todesanzeige: http://www.stuttgart-gedenkt.de/Traueranzeige/Kristian-Baethe). Im Holz-Zentralblatt Nr. 42 vom 18.10.2013, S. 1030, habe ich versucht sein Leben nachzuzeichnen:

    „Kristian Bäthe gestorben

    Am 6. Oktober verstarb Kristian Bäthe, ehemaliger Archivar und Bibliothekar des Holz-Zentralblatts/DRW-Verlag Weinbrenner GmbH & Co. KG in Leinfelden-Echterdingen, im Alter von 84 Jahren.
    Geboren am 29. Juni 1929 als Sohn eines Prokuristen und einer Fabrikantentochter in Dessau/Anhalt wuchs Bäthe in einem kunstsinnigen familiären Umfeld auf, in dem die Nähe zum Bauhaus zu spüren war. Nach der Grundschule besuchte er von 1940 bis 1950 das Realgymnasium, zuerst in Dessau, ab 1946 im holsteinischen Neumünster, der Heimat seiner Mutter.
    Bäthe siedelte 1950 nach München-Schwabing über und begann eine zweijährige Ausbildung in der Buchhandlung Lehmkuhl. Bereits im zweiten Lehrjahr führte er die Antiquariatsabteilung des Unternehmens. Anschließend arbeitete er bis August 1956 im wissenschaftlichen Antiquariat Kitzinger. Hier erstellte er seinen ersten Antiquariatskatalog. Nach einem dreimonatigen Intermezzo in der Gerlach”schen Verlagsbuchhandlung arbeitete er von 1957 bis 1965 als Redakteur bei J. Schweitzer Sortiment, München. Hier war er für Schweitzers Vademecum, Ausgaben von Justiz und Wirtschaft, zuständig.
    1966 wechselte er als Redakteur der Fachbibliographien zu Koch, Neff & Oetinger nach Stuttgart. 1974 übernahm er die Leitung des Archivs und der Bibliothek des DRW-Verlags. Bäthe reorganisierte die vernachlässigte Bibliothek; das Archiv musste er aus vielen Einzelteilen zusammenfügen. 1976, als der DRW-Verlag von der Kolbstraße in Stuttgart nach Leinfelden in das neu erbaute Domizil umzog, meisterte er die logistische Herausforderung, Archiv und Bibliothek in geordneten Bahnen dorthin zu überführen.
    Bäthes Hauptaufgabe war die Dokumentation des “Holz-Zentralblattes” und die Verschlagwortung von dessen Artikeln mithilfe eines selbstentworfenen, ausgeklügelten Karteikartensystems. Als “Wirtschaftspressearchivar” schuf er damit ein wichtiges Langzeitgedächtnis der Forst- und Holzwirtschaft, dessen Struktur später auch für die EDV-gestützte Erfassung des “Holz-Zentralblatts” übernommen wurde.
    Bäthe eignete sich ein umfangreiches Wissen über Bäume an. Seine Wahrnehmung von Bäumen vor allem in ihrer kulturgeschichtlichen Dimension kam in zwei aufwendig recherchierten Beiträgen “Lorbeer: mehr als nur ein Baum. Lorbeerbäume als Staatssymbole des Augustus - Lorbeerhaine der Götter” (”Holz-Zentralblatt” Nr. 41/42 vom 6. April 1977, S. 629) und “Baumdarstellungen in der Kunst des Exlibris” (HZ Nr. 154/155/156 vom 30. Dezember 1977, S. 2420/21) zum Ausdruck. Bereits 1965 war Bäthe als Autor eines bis heute viel zitierten Buches in Erscheinung getreten: “Wer wohnte wo in Schwabing? Wegweiser für Schwabinger Spaziergänge” ist ein Pionierwerk der Münchner Adressengeschichte. Als Mitautor der 1988 erschienenen dritten Auflage des Holz-Lexikons bearbeitete er die Verbände der Holzwirtschaft.
    Ende Dezember 1999 trat Bäthe nach 25 Jahren beim DRW-Verlag und Holz-Zentralblatt in den Ruhestand. Der Bücherfreund widmete sich nun verstärkt der Literatur sowie als Liebhaber von Frakturschriften der Herausgabe von Sonderdrucken und eigenen Veröffentlichungen in dieser Schrift. Bäthe engagierte sich zudem im Bund für deutsche Schrift und Sprache. Entspannung fand er bei den Wanderfreunden Harthausen“.

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