FERNPENDLER

Gesundheitliche Wracks

von Markus A. Maesel · 12.01.2011 · 1 Kommentar

Gerade noch geschafft. Ich bin wieder in vier Minuten von der U-Bahn-Station Arnulf-Klett-Platz auf Gleis 9 des Stuttgarter Hauptbahnhofs gehetzt. 17.51 Uhr – der ICE fängt an sich in Richtung Mannheim zu bewegen. Seit elfeinhalb Jahren fahre ich werktäglich zwischen Ludwigshafen am Rhein und Leinfelden-Echterdingen hin und her. Es ist ein unbarmherziger Kreislauf des täglichen Wiedergeboren Werdens als Fernpendler: Bus – Straßenbahn – Straßenbahn – ICE – U-Bahn und U-Bahn – ICE – Straßenbahn – Bus. Das sind am Tag viereinhalb Stunden Fahrzeit, wenn es gut geht, und 300 km Strecke. Neulich sagte eine Berufspendlerin einer Leidensgenossin im Zug, dass kein Außenstehender die Strapazen des Fernpendels verstehe, nur unqualifizierte Bemerkungen bekomme sie zu hören.

Ich bin zu müde um Zeitung zu lesen, lege meinen Kopf zurück und fange an zu dösen. Hoffentlich werde ich nicht erst in Frankfurt wach. Ich könnte doch mit meiner Familie nach Stuttgart ziehen, wird mir oft gesagt. Umziehen? Ich tausche doch nicht meinen Pfälzer Riesling gegen württembergischen Trollinger, mein ruhig gelegenes Reihenhäuschen gegen eine Stockwohnung an einer lärmenden Straße und Kurt Beck gegen Stefan Mappus ein. Auch ist alles viel zu teuer in der glitzernden Schwabenmetropole. Und die Kehrwoche würde mich als Pfälzer mit romanischem Gemüt raketenschnell in einen Wutbürger verwandeln.

Doch nach einem Beitrag der FAZ, der im letzten September die Spezies Fernpendler für den Zeitungsleser entdeckte, sind diese gesundheitliche Wracks. Ihr Leben sei durch Schlafmangel, Schlafstörungen, Magenbeschwerden, Rückenschmerzen, Übergewicht, psychische Probleme, Stress durch Verspätungen, Bewegungsmangel, unregelmäßiges Essen und schlechte Zähne gekennzeichnet. Ich fühle mich endlich einmal verstanden, und nun? Leben ist die Wahl der Qual. Ich motiviere mich mit einem weisen, dem irakischen Diktator Saddam Hussein zugeschriebenen Ratschlag: „Nicht hängen lassen“.

[Quelle: Nadine Bös: ICE statt Umzugswagen. In: FAZ.net v. 8.09.2010].

Kategorie(n): Kurpfälzisches und Südwestdeutsches, Mobiles und Zugiges

1 Beitrag der Leser

  • Heriman

    // Jan 15, 2011 at 09:16

    Hallo,

    zu “Ich tausche doch nicht meinen Pfälzer Riesling gegen württembergischen Trollinger, mein ruhig gelegenes Reihenhäuschen gegen eine Stockwohnung an einer lärmenden Straße und Kurt Beck gegen Stefan Mappus ein.”

    Genau! Auch ich habe nach vierzehn Jahren Arbeit in Stuttgart immer noch meinen Erstwohnsitz in der Pfalz. Und ich weiß warum.

    Viele Grüße,
    Heriman

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