VATER UND SOHN

Unverhofftes Wiedersehen

von Markus A. Maesel · 17.01.2011 · 1 Kommentar

Mein Vater war das, was man einen aufstiegsorientierten und innovativen Mitarbeiter nennt. Nach einer durch Kriegs- und Nachkriegszeit belasteten Kindheit begann für ihn mit vierzehn Jahren in der BASF, die er wie jeder Ludwigshafener nur die „Anilin“ nannte, ein neuer Lebensabschnitt. Er absolvierte mehrere Berufs- und Technikerausbildungen, ging in seiner Arbeit auf, und brütete auch nach Feierabend über irgendwelchen Papieren, Heften und Englischbüchern. Als junger Mann engagierte er sich in der katholischen Arbeiterjugend, nach seiner Heirat spielte sich sein Leben vorwiegend zuhause ab, er rauchte und trank nicht. Mein Vater war ein eher untypischer Pfälzer.

Irgendwann lag er abends nur noch müde auf dem Sofa, Lymphknotenkrebs im letzten Stadium lautete die Diagnose des Arztes. Zwei Jahre lang leistete er der tückischen Krankheit Widerstand. Wenige Stunden vor seinem Tode gelüstete es ihn zu unserer Verwunderung nach einem Schluck Bier. Es war Samstagnachmittag, die Geschäfte hatten bereits geschlossen, ich betrat erstmals die benachbarte Wirtschaft, um den letzten Wunsch meines Vaters zu erfüllen. War das der berühmte Essigschwamm am Kreuz oder der verzweifelte Versuch, kurz vor dem Ende Leben nachzuholen? Am 5. Februar 1977 starb mein Vater, vier Monate vor Vollendung seines 41. Lebensjahres.

Viele Jahre später, es wird Mitte der 90er Jahre gewesen sein, hatte ich im Traum mehrmals -  in klaren Bildern - folgende Begegnung: Wir feierten bei dem neuen Lebenspartner meiner Mutter ein Familienfest. Ich verließ das Wohnzimmer und stand allein im stillen Flur vor der weißlackierten Tür des Besenschranks. Ich öffnete sie und stieß auf eine weitere Tür, die in einen kleinen, schlauchförmigen Raum mit Fenster führte. Dort lag auf einem kargen Bett mein Vater, wie ich ihn die letzten Monate vor seinem Tode kannte: Dünn, ausgezehrt, ein weicher, dunkelbrauner Haarflaum auf dem Kopf. Er trug seine graue Tuchhose und den grauen Pullover mit V-Ausschnitt, darunter ein weißes Hemd; an den Füßen die braun-gelb-schwarz karierten, geschlossenen Hausschuhe, die mein Bruder und ich nur respektlos die „Osterhasenschlappen“ nannten. „Papa, Du lebst ja noch“, rief ich in meiner Überraschung. Mein Vater antwortete mir daraufhin: „Ich kann nicht sterben, weil ich nicht gelebt habe“.

In letzter Zeit kommt mir diese Begegnung oft in den Sinn. Ein Mahnruf meines Vaters? Ich bin jetzt knapp 49 Jahre alt.

Kategorie(n): Ausgekramtes und Entdecktes, Sonstiges und Undefinierbares

1 Beitrag der Leser

  • Hoetger

    // Feb 22, 2012 at 10:40

    Wie wahr, wie wahr. Doch was heißt Leben? Letztlich stand in einem Interview mit Wim Wenders, dass er nur die Dinge als bleibend erachtet, die man mit Liebe getan hat.

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