Selbstmörder lieben die Schnellzugtrasse zwischen Mannheim und Stuttgart. Bevorzugt legen sie sich während der Berufsverkehrszeiten auf die Gleise, um mit möglichst viel Aufmerksamkeit das irdische Jammertal zu verlassen. Etwa 1200 Menschen scheiden in Deutschland auf diesem Weg jährlich aus dem Leben.
Heute ist wieder so ein Tag, der Eurocity 217 steht schon seit mehr als einer Dreiviertelstunde in einem Waldabschnitt unweit von Vaihingen/Enz. Etwa 20 Minuten von Stuttgart entfernt. Nun muss der Zug bis nach Bruchsal in die Rheinebene zurückfahren und über die alte Bimmelbahnstrecke die Schwabenmetropole ansteuern. Ich weiß nicht, wann wir am Ziel ankommen werden. Ob der Selbstmörder an seinem Ziel angekommen ist?
Die Menschen im Zug tragen die Verspätung mit Gelassenheit, was sollen sie auch anderes machen. Die meisten von ihnen sind erprobte Fernpendler. Ihre Arbeitgeber informieren sie per Handy. Im Schneckentempo kriecht der EC zurück. Als Entschädigung werden die Fahrgäste zu einem kostenlosen Heißgetränk in den Bistrowagen eingeladen. Nach einiger Zeit verkündet der Lautsprecher, dass das Angebot nur noch zehn Minuten gelte.
Wie wird es dem Lokführer des vor uns liegenden Zuges gehen, der mit ansehen musste, wie sein Gefährt über den Lebensmüden raste? Im Bekanntenkreis habe ich von einem Lokführer gehört, der schon zweimal einen Selbstmörder überfahren hat. Er ist psychisch am Ende, hat Frau und Kinder, und kann seinen Beruf nicht mehr ausüben. Selbstmörder und ihre Opfer.
Unser EC ist um 7.05 Uhr in Ludwigshafen am Rhein losgefahren und kommt um 9.42 Uhr in Stuttgart an, eine Strecke von 120 Kilometern. Eine „Bloody Mary“ könnte ich jetzt nicht trinken. Den Schlager „Es fährt ein Zug nach Nirgendwo“ vertrage ich heute auch nicht. Und Dietrich Bonhoeffers Trostlied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ würde wie Hohn klingen. „Wir wünschen noch einen angenehmen Tag“, säuselt der Zugführer zum Abschied durch den Lautsprecher.
4 Beiträge der Leser
Catja Rüter
// Feb 19, 2011 at 01:28
Ach ja, das Bahnfahren wird von Tag zu Tag immer aufregender und erspart das Buchen eines “Erlebnisurlaubs”.
Gilt natürlich nur sofern man noch Urlaubstage übrig hat und nicht durch die täglichen Verspätungsstunden aufgebraucht hat.
Markus A. Maesel
// Mär 21, 2011 at 12:06
Wie es dem türkischen Lokführer Murat Örs ging, der einen Selbstmörder von der Schiene rettete:
http://www.krone.at/Nachrichten/Selbstmordkandidat_in_der_Tuerkei_geht_auf_Retter_los-Hilfe_unerwuenscht-Story-251192
Markus A. Maesel
// Jan 19, 2014 at 07:16
Artikel in der “Welt” zum Thema Schienensuizid: http://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article123981525/Die-Leiden-des-Lokfuehrers-nach-Personenschaden.html
Freitödliche Bahnansagen | Weltgeflüster
// Mär 16, 2014 at 06:31
[…] auf deutschen Schienen den Weg in eine für sie bessere Welt (vgl. auch Weltgeflüster-Beitrag „DIESSEITSFLÜCHTER: Ende auf Schienen“). Die Reisenden, die auf den Bahnsteigen warten, müssen dann mit Verspätungen und […]
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