MEDITATIVER ABSTURZ

Zen und die Kunst eine Pizza zu ignorieren

von Markus A. Maesel · 06.04.2011 · 2 Kommentare

„Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ ist ein Klassiker der modernen west-östlichen Erbauungsliteratur. Gelesen habe ich ihn nie, obwohl ich in den 80er Jahren auf dem Zen-Trip war. Aus dem katholischen Milieu stammend, hielt ich mich lieber an die Anleitungen des in Japan lebenden Jesuiten Hugo Makibi Enomiya-Lassalle, der die Zen-Meditation dem christlichen Abendland vermittelte. Zen interessierte mich auch weniger als fernöstliche Lebensphilosophie, sondern eher als Technik, um den Kopf für das Wesentliche frei zu bekommen. Vacare deo – frei sein für Gott, lautete schon früh ein Grundgedanke der christlichen Mystik und Kontemplation. Ein Gefäß müsse erst geleert werden, damit es mit frischem Wasser gefüllt werden könne.

Da der Lotussitz weder mein Ding noch mein Ehrgeiz war, versah ich mich mit einem Suwari-Hocker und begab mich regelmäßig in das Zentrum der Jesuiten in meiner Heimatstadt Ludwigshafen. Bei den Treffen saßen wir im Karree auf dem Teppichboden der Kapelle und versuchten uns – nach einem kurzen geistigen Impuls der Meditationsleiterin – für eine Stunde ins Nichts zu versenken. Es dauerte nicht lange und die Beine begannen zu schmerzen. Gedanken kommen und gehen zu lassen, nur nicht an ihnen festhalten oder ihnen nachgehen, war die wichtigste Anfängerübung. Oft wurde es dann im Kopf ruhiger, Zeitlosigkeit, Getragensein und Entspannung entfalteten sich im Körper.

Doch eines Tages erging es mir wie Ikarus, der mit seinen Wachsflügeln der Sonne zu nahe kam. Ich stürzte im meditativen Höhenflug ab. Wie immer übte ich mich beim wöchentlichen Zen-Treffen in der Versenkung und versuchte loszulassen. Ruhe kehrte in mir ein. Mein Körper war nur noch Atem. Gleitender Atem, ein und aus, ein und aus, ein und aus. Plötzlich machte sich im reinen Luftstrom ein Geruch von frisch gebackenem Teig, reifen Tomaten, Oregano, Majoran, schwitzender Salami und geschmolzenem Käse breit. Ich hob leicht die Augenlider und sah auf Nasenhöhe eine Pizza – goldbraun, rot und gelb, warm und dampfend – langsam an mir vorbeischweben. Sie passierte meine rechte Schläfe und bewegte sich um den Hinterkopf herum, über die linke Schläfe erneut zur Nase. Sie hatte mich zu ihrem Fixstern auserkoren und umkreiste nun im Zeitlupentempo immerfort mein Haupt.

Ich senkte wieder die Augenlider, versuchte die Pizza loszulassen und mich wieder auf meine Atmung zu konzentrieren. Doch die kulinarische fliegende Untertasse kreiste fort und fort, ihr köstlicher Geruch lähmte zunehmend meine Sinne. Magenknurren übertönte die Atemgeräusche. Anstatt zum kontemplativen Geistesmenschen erhöht zu werden, degenerierte ich immer mehr zum Pawlowschen Hund. „Wenn du dem Buddha [beim Meditieren] begegnest, erschlage ihn“, riet einst der weise Zen-Meister Suzuki. Doch welcher Pfälzer Lebemann schlägt nach einem solchen Wunderwerk italienischer Backkunst? Nur um den Kopf frei zu bekommen? Eher wird er sich aus dem Lotussitz erheben und noch eine Flasche Dornfelder aus dem Keller holen. Zen und die Kunst eine Pizza zu ignorieren – nein, diese Prüfung habe ich nicht bestanden. Eine Pizza hat ihre eigene Mystik. Seitdem steht mein Suwari-Hocker unbenutzt in der Ecke. Meine Kinder haben ihn inzwischen mit Kugelschreibern und Filzstiften voll gekritzelt.

[Literatur und Anmerkungen: Meine rudimentären Kenntnisse über „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ von Robert M. Pirsig verdanke ich Henri J. M. Nouwen: Ich hörte auf die Stille. Sieben Monate im Trappistenkloster. Freiburg/Basel/Wien 1982, 7. Auflage – eine Zusammenfassung von Pirsigs Buch findet sich in der Wikipedia; Hugo M. Enomiya-Lassalle: Zen Unterweisung. Bearbeitet und herausgegeben von Roland Ropers und Bogdan Snela. München 1988, 3. Auflage; William Johnston: Zen – ein Weg für Christen. Mainz 1977, 1. Auflage (= Topos-Taschenbücher, Bd. 56) (Suzuki-Zitat auf Seite 65). – Meine zweite meditative Entgleisung schildert die Geschichte „Und Buddha schweigt“].

Kategorie(n): Heiliges und Unheiliges, Kurpfälzisches und Südwestdeutsches

2 Beiträge der Leser

  • Anne

    // Apr 6, 2011 at 11:43

    Hallo Markus,

    wie wär’s demnächst mit einer längeren Auseinandersetzung mit Deiner neuen Art von Mystik?
    Nette Schmunzelgeschichte!

    Gruß Anne

  • Heriman

    // Apr 6, 2011 at 20:17

    Hallo,

    sehr interessant, dass in dem Artikel Ikarus zitiert wird!

    In dem Buch “Zen, oder die Kunst ein Motorrad zu warten” geht ein wichtiger Teil um Phaidros. Der Autor gibt sich selbst sogar dieses Pseudonym.

    Phaidros ist laut Plato im gleichnamigen Dialog ein Gesprächspartner des Sokrates. Darin geht es unter anderem um einen Mythos der Seele, der ein ähnlicher “Absturz” beschieden ist.

    Zit. aus Wikipedia:

    “Die Götter haben lauter edle Pferde, die Seele aber, deren Wagen von der Vernunft gelenkt wird, hat ein edles, himmlisches Ross, das Gemüt, und ein wildes, zottiges, bockiges irdisches Pferd, den Trieb. Bei der Wagenfahrt in der Gesellschaft der Götter führt der Weg steil an den Rand der Welt, auf den Buckel des Himmels: hier vermag der Lenker des Seelengefährts, die Vernunft, die in der überhimmlischen Region beheimateten Ideen zu erblicken: farblose, stofflose, gestaltlose, in Wahrheit existierende Wesen. Hierher kann nicht mehr jede Seele emporklimmen, doch die es noch vermag, stürzt wegen des störrischen und ungeschickten Verhaltens des irdischen Pferdes leicht ab. Dann fallen die Federn aus den Flügeln der Seele und diese sinkt zur Erde. Hier vermag sie die allgemeine Wahrheit zu erfassen, wenn es ihr vorher gelungen war, die Ideen zu erblicken.

    Wenn die Seele des Menschen auf Erden etwas Schönes erblickt, erinnert sie sich an die Ideen, ihre Federn beginnen wieder zu wachsen und sie erbrennt in Liebe: dieser „Wahnsinn“ erinnert die Seele an ihre eigentliche Heimat.”

    Grüße,
    Heriman

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