OHRENKRAWALL

Melodica

von Markus A. Maesel · 30.09.2011 · 1 Kommentar

Kennen Sie noch die Melodica? Das Musikinstrument, welches wie das Gequake eines liebeskranken Frosches klang? Das Blasklavier war in den 1970er Jahren zeitweise die Allzweckwaffe bürgerlicher Musikerziehung, die den Nachwuchs sowohl auf Blas- als auch auf Tasteninstrumente vorbereiten sollte. Der 1957 von der Firma Hohner geschaffene Gehörgangquäler wollte gar die antiquierte Blockflöte als Anfängerinstrument ersetzen. Typischer 70er-Jahre-Reformwahn.

Stillleben Melodica (Foto: M. Maesel)

Mit diesem letzten Schrei der Musikpädagogik wurde auch ich im zarten Knabenalter in die Musikschule geschickt. Unter dem gestrengen Blick einer tschechischen Klavierlehrerin ließen eine Hand voll Kinder ihre Instrumente zum Froschkonzert erschallen: „Hört ihr die Drescher, sie dreschen im Takt, eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, bum“. Ich drückte etwa zwei Jahre lang auf den weißen und schwarzen Tasten herum, bis das Instrument verstimmt war. Und das kurz vor einem Konzert der Musikschule. Die Lehrerin stellte mich vor die Wahl: eine neue Melodica oder keine Teilnahme am Konzert. Ich entschied mich für den dritten Weg und hörte gleich auf.

Beim Aufräumen habe ich das Instrument im Wandschrank unseres Dachzimmers wieder gefunden. Im grauen Köfferchen, mit weißem und schwarzem Mundstück zum Wechseln. Spontan ließ ich seine Stimme erquaken, erneut durften die Drescher im Takt dreschen. Es klang noch genauso scheußlich wie früher. Erstaunt nahmen meine Kinder die Existenz des musikalischen Dinosauriers zur Kenntnis. Wenn sie mich ärgern wollen, blasen sie nun auf der Melodica.

Biographische Altlast – die Melodica (Foto: S. Maesel-Merung)

Vor vierzig Jahren wurde gegen alles Mögliche demonstriert. Gegen den Vietnamkrieg, gegen den Schah von Persien, gegen muffige Universitäten. Doch wo waren die Demonstranten und Amnesty International, als die Melodica auf die Grundschulkinder losgelassen wurde? In Guantánamo versuchen die US-Amerikaner seit zehn Jahren islamistische Terrorverdächtige mit Waterboarding und anderen unfeinen Methoden zu ihrer Lebensbeichte zu bewegen. Mit der Melodica im Anschlag hätten die Gefangenen schon nach fünf Minuten über Al-Qaida gesungen. Vielleicht kamen auch beim Fall des biblischen Jericho nicht Trompeten zum Einsatz, sondern eine Frühform der Melodica. Denn Trompeten bringen keine Stadtmauer zum Einsturz.

Kategorie(n): Ausgekramtes und Entdecktes, Handwerkliches und Kreatives

1 Beitrag der Leser

  • Helma Freese

    // Dez 22, 2011 at 14:23

    Lieber Markus,
    Ihr Beitrag hat mich inspiriert und ich werde jetzt Erinnerungen an die Musikschule 1975 zu Papier bringen. Wenn mir das Skript gut gelingt, sende ich es Ihnen.

    danke
    Ihre Helma Freese

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Kommentar: