TRIER ROCKT

Die Heilig-Rock-Wallfahrt (Teil 1)

von Markus A. Maesel · 19.05.2012 · 0 Kommentare

Im Dachzimmer meines Großvaters stand ein alter Schreibtisch, in dem sich zahlreiche Zigarrenkisten befanden, die angenehm nach Zedernholz rochen. Ihr Inhalt hatte sich schon lange in Rauchkringel aufgelöst, sie selbst dienten der Aufbewahrung von allerlei Kleinkram. Als Kind schlich ich oft zu dem Schreibtisch und stöberte neugierig in den Holzkistchen. Sie waren für mich geheimnisvolle Schatztruhen, die beim Öffnen nicht nur Gegenstände, sondern auch viele Geschichten preisgaben. Bis heute bewahre ich selbst mir wichtige Dinge in hölzernen Zigarrenkisten auf.

Die größte und geheimnisvollste Zigarrenkiste war für mich indes der Schrein in der Kapelle hinter dem Hochaltar des Trierer Domes, in dem der so genannte „Heilige Rock“ verborgen liegt. Dabei soll es sich um das Gewand Christi handeln, das aus einem Stück gewebte Unterkleid, das der Rabbi aus Nazareth vor seiner Kreuzigung trug. Seit Ende der 1970er Jahre bin ich immer wieder an dem Schrein vorbeigegangen und hätte gerne einen heimlichen Blick in diese überdimensionale spirituelle Zigarrenkiste geworfen. Doch das Gitter und die Alarmanlage zwangen mich zur Anständigkeit. Dann erfuhr ich aus meiner Tageszeitung, dass das Gewand vom 13. April bis 13. Mai erneut der Öffentlichkeit gezeigt werden sollte. Grund war die erstmalige Schau des Heiligen Rockes vor 500 Jahren, seit 1512 wurde das sakrosankte Textil erst rund zwanzig Mal den Gläubigen gezeigt, dreimal im letzten Jahrhundert (1933, 1959 und 1996).

Für mich war das wohl die letzte Chance in meinem fortgeschrittenen Lebensalter, endlich den Inhalt des Schreines zu sehen. Ich schob jedoch zunächst den Gedanken einer Trier-Reise weit weg: mein Urlaub gehört der Familie, am Arbeitsplatz türmen sich die Papierberge und als Historiker weiß ich, dass der antike Stofffetzen mit Jesus von Nazareth wenig zu tun hat. Doch meine innere Unruhe wurde trotz aller rationalen Einwendungen, oder gerade deswegen, immer stärker. Und dann bot die säkulare Deutsche Bahn noch ein preisgünstiges „Heilig-Rock-Ticket“ an. Meine Ehefrau war über das irrationale Vorhaben ihres ansonsten hyperkritischen Gatten zwar erstaunt, war aber der Meinung, dass bestimmte Dinge einfach getan werden müssen.

Wenige Tage später saß ich frühmorgens um 6.15 Uhr im Omnibus nach Ludwigshafen-Mitte. Von dort ging es mit der S-Bahn nach Kaiserslautern, dann nach Saarbrücken und Trier. Mehr als drei Stunden Fahrt, die herbe Landschaft der Westpfalz, die von der niedergehenden Stahlindustrie beherrschte Strecke Saarbrücken-Völklingen-Saarlouis-Dillingen, die liebliche Saar- und Mosellandschaft. Als ich in Ludwigshafen startete, sah ich vor meinem geistigen Auge den Reformator Martin Luther, der mich aufgeklärten Menschen eindringlich vor der „Bescheißerey zu Trier mit Christus Rock“ warnte. Ich versuchte abzuwiegeln und ihn abzuwimmeln: „Bleib locker, Martin. Lass es einfach rocken“. Altersmilde machte sich bei mir breit. Dabei kam mir ein Vers des schwülstig-frömmelnden Gedichts des Trierer Rektors A. Stöck in den Sinn, das er anlässlich der Schau des Gewandes im Jahre 1891 aus seiner Feder gequält hatte:

„Da gibt’s ein Wiederhallen
Und brennende Begier,
Auch gläubig hinzuwallen
Zum heil’gen Rock nach Trier“.

Und das tat ich gerade, wenn auch nicht ganz so fromm. Bei den Beförderungsbestimmungen zum „Heiligen-Rock-Ticket“ verwunderte mich, dass es auch für Hunde galt und dass diese als Erwachsene zu zählen waren. Wo liegt eigentlich die Motivation für einen Hundepilger? Schließlich wurde in Trier eine Tuch- und keine Knochenreliquie gezeigt!

Schon im Trierer Bahnhof begannen Wegweiser mit dem roten Heilig-Rock-Logo den Weg in die Altstadt zu weisen. Ab dem Marktplatz standen Helfer in roten Jacken bereit, um die Pilgerströme zu lenken und auf die Fragen der Wallfahrer einzugehen. Kurz nach halb Elf war der Domplatz noch fast leer. Lediglich im Dom gab es eine Warteschlange vor dem Heiligen Rock, die etwa das Hauptschiff der Kirche ausfüllte. Am Hochaltar standen zwei Vorbeter, die die Wartenden mit Vater-unsers, Gegrüßet-seist-Du-Marias und Litaneien berieselten. Weniger wäre hier mehr gewesen – die andächtige Stille der Menschen war weihevoll genug.

Bald stand ich vor dem hellen Präsentationsschrein mit Glasplatte, den die Domschreinerei aus der 50 Jahre alten Zeder aus dem Innenhof des Domkreuzganges gefertigt hatte. Auf mich wirkte er wie ein Tropfen, in dem das heilige Textil gebettet und vor der es umgebenden rauen Pilgerwirklichkeit geschützt war. Der Heilige Rock zog auch mich in seinen Bann, eine eigenartige friedvolle, fast heitere Stimmung machte sich in mir breit. Ich spürte eine tiefe, innere Verbundenheit mit den Menschen, die sich hierher auf den Weg gemacht hatten. Vor Rührung hatte ich einen Kloß im Hals.

Im Württembergischen hätte die Reliquie nicht die Zeiten überdauert, dort hätte sie die emsige schwäbische Hausfrau als verschmutztes T-Shirt angesehen und schon längst in einem Waschzuber mit Seifenlauge geschrubbt und in ihre Bestandteile zerlegt. Und doch ist diese Jesus zugeordnete Tunika ein angenehmer Gegensatz zu den wallenden, prächtigen Gewändern seiner klerikalen Nachlassverwalter. Schon deshalb wünschte man sich, dass sie echt wäre. Doch in Europa konkurrieren noch weitere 50 „Heilige Röcke“ um den Anspruch, das authentische Gewand Christi zu sein, wie ich später im Dommuseum erfuhr.

Der Legende nach hatte Maria bereits für Klein-Jesus den Rock aus einem Stück gewebt und das Kleid sei mit ihm gewachsen. Da behaupte doch einer, Stretch sei eine neuzeitliche Erfindung. Bekanntlich würfelten die römischen Soldaten nach der Kreuzigung Jesu um das Kleidungsstück, um es nicht zerteilen zu müssen. Helena, die Mutter des römischen Kaisers Konstantin und frühe Fördererin des Christentums, fand zielsicher und ohne Selbstzweifel im 4. Jahrhundert das Gewand und andere Reliquien bei ihrer Reise nach Palästina und brachte es nach Trier mit. Dann war erst mal Ruhe um das Textil. 1196 wurde die Tunika in den Hochaltar des neu geweihten Ostchors des Domes gelegt. Beim Reichstag 1512 in Trier begehrte Kaiser Maximilian I. das Gewand zu sehen. Die Bevölkerung forderte daraufhin die öffentliche Zeigung des Heiligen Rockes – seitdem läuft die Wallfahrt. Seit 1959 müssen Katholiken nicht mehr an die Echtheit des Gewandes glauben. Letztendlich ist nur ein Stückchen Stoff im Rückteil des Leibrocks antiken Ursprungs, an ihm machen sich die Echtheitshoffnungen fest. Die Tunika wurde wohl im 16. Jahrhundert darum gebastelt. Der amtierende Trierer Bischof Stephan Ackermann ließ sich auf eine erneute historische Echtheitsdiskussion erst gar nicht mehr ein und erklärte das Gewand einfach zum „Christuszeichen“. Und damit wurde der Rock auf einer höheren Ebene doch wieder echt.

Ich saß noch länger in einer Bank in der Nähe des Seitenausgangs des Domes mit Blick auf den Holzschrein und ging meinen Gedanken nach, beobachtete die Wallfahrer. Als ich den Dom mit Andachtsbildchen in der Hand verließ, saß ein Bettler auf dem Kopfsteinpflaster, der zielgruppenorientiert auf seiner Mundharmonika spielte:

„Preis dem Todesüberwinder,
der da starb auf Golgotha,
dem Erlöser aller Sünder,
Preis ihm und Halleluja!“

Die Pilger drängten zum Wallfahrtsladen. Meist kitschige Devotionalien bestimmten die Auslage, überall das rote Heilig-Rock-Logo. Kitsch und Wallfahrt scheinen schon immer zusammengehört zu haben, wie mich später die Sonderausstellung zu 500 Jahre Heilig-Rock-Wallfahrt im Dommuseum belehrte.

Gegen Mittag waren die Trierer Altstadt und der Domplatz mit mehr als 10000 Schülern bevölkert. Obwohl es öfter Platzregen gab. Eine Prozession von 3000 chaldäischen, also arabischen Katholiken versuchte durch das Menschengewimmel in den Dom zu dringen. Schüler in den Warteschlangen vor den beiden Domeingängen sangen gelegentlich das Alleluja von Taizé. Trier war zu einem riesigen Hard Rock Café geworden. Ein Mekkapilger darf sich nach seiner Wallfahrt Hadschi nennen. Ist ein Heilig-Rock-Pilger nach seiner Reise dann ein Hadschrock? Ich wallte zu weiteren Trierer Kirchen, die mir am Herzen liegen. Für meine Zigarrenkiste, in der ich zuhause seit zwei Jahrzehnten heiligen Kruscht aufbewahre, hatte ich einen Pin mit dem Heilig-Rock-Logo erworben.

Teil 2 folgt demnächst.

[Meine Heilig-Rock-Wallfahrt war am 20. April 2012].

Bilderbogen

Die Deutsche Bahn lockte mit dem Heilig-Rock-Ticket nach Trier.

Ab dem Trierer Bahnhof wiesen Schilder mit roten Logos den Weg zum Heiligen Rock im Dom.

Um halb Elf morgens waren Domplatz und Dom noch spärlich frequentiert.

Nach dem Besuch des sakrosankten Textils gab es am Ausgang ein Andachtsbildchen zur Erinnerung. Fotografieren war im Dom verboten.

Der Trierer Dom mit Kapelle, in der der Heilige Rock normalerweise in einem dunklen Schrein aufbewahrt wird.

Der Wallfahrtsladen war Anlaufstelle vieler Pilger.

Wallfahrerkitsch

Die rotbejackten Helfer standen in der gesamten Altstadt bereit.

Mittags wurde der Domplatz immer voller, lange Schlangen bildeten sich bis zum Gewand.

Etwa 3000 arabische Katholiken pilgerten an diesem Tag ebenfalls zur Reliquie.

Domplatz und Zugang vom Marktplatz waren überfüllt. - Fotos: Markus A. Maesel

Kategorie(n): Heiliges und Unheiliges

Noch keine Beiträge der Leser

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Kommentar: