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Rattenseelsorge

von Markus A. Maesel · 09.08.2012 · 1 Kommentar

Schläfrig sitze ich im morgendlichen ICE nach Stuttgart, langsam gehe ich meine Tageszeitung durch. An einer kleinen Lokalmeldung bleiben meine Augen hängen. Eine aggressive Ratte hatte vor dem Eingang eines Mannheimer Mehrfamilienhauses dessen Bewohner in Schach gehalten und sogar einen Anwohner angesprungen. Der Kammerjäger (neudeutsch: Schädlingsbekämpfer oder Exterminator) wird das widerwärtige Nagetier schon zur Räson gebracht haben, denke ich grimmig. Als ich die Pressenotiz weiterlese, erstarre ich und werde hellwach vor Fassungslosigkeit. Man hatte nicht den Kammerjäger, sondern eigens den „Tiernotdienst“ alarmiert, um das Problem zu lösen.

Ob der „Tiernotdienst“ die aggressive Ratte mit einer deeskalierenden Kommunikationsstrategie zur Aufgabe bewegen konnte? Ist sie ihren Helfern freiwillig in ein Tierheim gefolgt? Oder musste sie, kaum auszudenken das tierische Leid, für den Transport in einer Zwangsjacke fixiert werden? Wurde sie im Tierheim ausreichend psychologisch betreut? Konnte sie sich die tieferen Gründe für ihre Aggressivität bewusst machen? War ihre Mutter während der Schwangerschaft nachts an der Mülltonne von einer schwarzen Katze bedroht worden? Ein pränatales Trauma? Oder war sie von ihren fünf Geschwistern an den mütterlichen Zitzen gemobbt worden? Ein postnatales Trauma? Wurde ihr die Teilnahme an einem Antiaggressionstraining angeboten? Konnte sie mit professioneller Hilfe ihre tatsächlichen, individuellen Stärken erkennen? Wird sie nun im Rahmen einer Reintegrationsmaßnahme als Pest-Botschafterin nach Indien (korrekte Anrede „Eure Pestilenz“) oder als Ebola-Expertin nach Uganda geschickt? Wurde dem Mann, den die Ratte angesprungen hatte, seine Mitschuld klargemacht? Schließlich hätte er im Haus bleiben können, vielleicht hatte er zuvor auch die Ratte aus dem Küchenfenster provozierend angeschaut? Müsste er gerechterweise nicht auch die Aufwendungen des „Tiernotdienstes“ bezahlen?

Alles Fragen, die beim Einsatz eines begnadeten Kammerjägers nicht aufgekommen wären.

PS: Apropos Ratten – gestern war Weltkatzentag.

[Quelle: „Aggressive Ratte springt Mann an“. In: Die Rheinpfalz Nr. 184 vom 9. August 2012, Rubrik „Mannheim und Region“].

Kategorie(n): Kurpfälzisches und Südwestdeutsches, Tierisches und Pflanzliches

1 Beitrag der Leser

  • Helga

    // Aug 11, 2012 at 12:15

    Hallo Markus,
    das hört sich an wie die Zuschrift einer aufgebrachten Rattenliebhaberin.

    Gruß Helga

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