WINTERDUNKEL

Der bunte Wüstenfisch

von Markus A. Maesel · 27.02.2013 · 2 Kommentare

Dieser extrem dunkle und trübe Winter setzt meinem Gemüt auf den langen, täglichen Pendlerfahrten heftigst zu. Laut Medien soll es der lichtärmste Winter seit 43 Jahren sein. Zudem muss ich jetzt schon um 4.45 Uhr aufstehen, da ich mich auf den einen Verkehrsanschluss nicht mehr verlassen kann. Unbarmherzig läutet der Wecker mein Tagwerk ein, etwas später wanke ich mit bleiernen Schritten ins nasskalte Freie. Das fahle Gelblicht der Straßenlaternen weist mir den Weg ins dunkle Irgendwo.

Lichtarmut und Müdigkeit zerfressen mich, machen mich zum lebendigen Leichnam; wo ich auch bin, schaut mich wie aus den Augenhöhlen eines Totenkopfes lähmender Alltagstrott an. In dieser wenig erquicklichen geistigen Gemengelage suche ich Trost und Hilfe bei den Wüstenvätern, die seit mehr als 30 Jahren zu den Brennstäben meines Seelenreaktors gehören. Diese einfachen Fellachen flohen ab Ende des 3. Jahrhunderts in die ägyptische Wüste, um dort als Einsiedler Gott, Seelenheil und Lebenssinn zu finden. Ihre Erfahrungen und Erkenntnisse sind als Vätersprüche (Apophthegmata Patrum) überliefert.

Ich bleibe bei einem Wüstenvater hängen, der zusammen mit seinem Schüler an einem Seil flocht. Mit der Herstellung von Körben und Seilen verdienten die frommen Männer ihren Lebensunterhalt. Da fragte der Schüler: „Abba, was muss man tun, um gerettet zu werden?“ „Du siehst es gerade“, erhielt er als Antwort. Ich versuche ihnen zu folgen und flechte nun in Bus und Bahn aus den Binsen der mich umgebenden Dunkelheit, den Fasern meiner Müdigkeit und dem Bast meines Alltagsgraus in meinem Innern ebenfalls Körbe. Einen nach dem anderen. Nach dem zwanzigsten Korb tritt bei mir eine gewisse Herzensruhe ein, „hesychia“ nannten das die alten Wüstenväter. Wo stelle ich die ganzen Seelenkörbe nur ab? Ob mein Sitznachbar im ICE etwas dagegen hat, wenn ich einige dieser Flechtwerke auf seinem Schoß staple? Schließlich muss er ja nicht die ganze Zeit auf seinen Klapprechner starren.

Zerschlagen komme ich abends von der Verlagsarbeit und dem Körbeflechten wieder zuhause an. Meine kleine Tochter erwartet mich mit einem Eierkarton, der in Wirklichkeit ein Aquarium ist. Darin befinden sich Fische, die das Mädchen aus Papier ausgeschnitten und mit Buntstiften bemalt hat. Jeder Fisch stellt ein Familienmitglied dar. Die Tochter greift einen Aquariumbewohner heraus und hält ihn mir fröhlich lächelnd vor das Gesicht: „Der größte und bunteste Fisch aber bist du, Papa“.

„Der Anfang des Heils besteht darin, dass du dir selbst entgegentrittst“, heißt es in einer der Wüstensentenzen. Beginnt mein Heil, wenn ich den bunten Papierfisch meiner Tochter als mein Spiegelbild annehme? Und ich damit meinen inneren Lemming in den hohen Norden zurückschicke.

Papas Alter Ego

Kategorie(n): Handwerkliches und Kreatives, Heiliges und Unheiliges, Mobiles und Zugiges

2 Beiträge der Leser

  • Anne Bünger

    // Mär 11, 2013 at 11:36

    Goldig! Und so treffend dargestellt mit dem hellen Kopf, der vielfarbigen und vielgestaltigen Mitte, in der es so eng wird, und zuletzt der ganz große blutvolle Raum fürs Herz, wenn alles, wie auch immer, verdaut ist. Ja Markus, Du bist gut getroffen. Sag’ der Künstlerin liebe Grüße! Sie ist ja bestimmt auch ein Brennstab für Deinen Seelenreaktor.

    Habt eine gute Zeit alle mit einander!

    Anne

  • Rosen für die Tochter | Weltgeflüster

    // Sep 22, 2015 at 20:49

    […] eine Geschichte über meine Rose, so wie du das damals mit meinem Papierfisch getan hast“ (vgl. Beitrag über den bunten Wüstenfisch). Dann verschwindet sie wieder in ihrem Zimmer. Nachdenklich gehe ich ins […]

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