WELTENLÄRM

Und ewig ruft der Eremit

von Markus A. Maesel · 02.05.2013 · 0 Kommentare

Reizüberflutung überall. Sprechen, fragen, antworten, rufen, anrufen, schreien, erklären, planen, koordinieren, bestellen, diskutieren, beschweren, streiten, ermahnen, werben, labern, drohen, auffordern, altklug zugetextet werden, Lautsprecherbeschallung, Dauermusik, Straßenlärm, Bildschirmgeflimmer, Ampelsignale, rasende Landschaften aus dem ICE-Fenster, Menschengewimmel.

Der Körper zieht die Notbremse, mein innerer Eremit wird wach. Lautstark ruft er mich zu Weltflucht und Einsamkeit auf, wie damals, als ich zum Schrecken meiner Familie mein Heil bei den Kartäusern finden wollte. Heute wirbt er in Gestalt eines koptischen Wüstenvaters, für deren Sinnsprüche ich besonders anfällig bin: „Wer in der Einsamkeit sitzt und Stille hat, ist drei Kriegen entkommen: Von den Kriegen des Hörens, des Sprechens und des Sehens. Er hat nur einen einzigen Kampf zu bestehen, den des Herzens“. Ich nicke zustimmend und schuldbewusst. Meine Chance, die gottgeweihte Stille der Kartause, habe ich verpatzt. Ein anderer wüster Altvater gesellt sich zu ihm und legt nach: „Wer es mit den Begierden dieser Welt hält, der ist ein Mensch, der bis zum Sterben schläft“. Noch betroffener senke ich mein Haupt.

Schüchtern meldet sich in diesem Augenblick der abgemagerte Diesseitsmensch in mir zu Wort. Er erinnert mich an eine Dienstreise vor sechs Jahren ins Neckartal. Damals war ich in einem absolut ruhigen, friedvollen Waldhotel im Kleinen Odenwald untergebracht. Früh war ich schon angereist, um dem strapaziösen Weltenlärm zu entfliehen. Nur Stille und ich. Doch nachts konnte ich nicht einschlafen. Kein Schnarchen von Frau und Kindern im Doppelbett, keine Aufschreie im Traum; kein Nachwuchs, der mich mindestens einmal in der Stunde mit seinen Füßchen kräftig in die Magengrube trat. Wie sollte ich in dieser Ruhe geruhsam schlafen können? Ruhelos wälzte ich mich in der Einsamkeit bis zum Morgen.

In meinen Gedankengängen werde ich jäh von einem weiteren Wüstenvater unterbrochen. Er stellt sich gegen seine beiden Kollegen und ruft mir aus den Einöden Ägyptens zu: „Viele haben sich in dieser Zeit die Ruhe genommen, ehe Gott sie ihnen gewährte“. Demütig und erleichtert verneige ich mich vor seiner Ermahnung. Und ich haste weiter zu Fuß durch das morgendliche Dunkel der Ludwigshafener Gartenstadt, über mir die hohen Wipfel der Kastanienbäume der Königsbacher Straße. Ich muss zum Mundenheimer Bahnhof laufen, Busse und Straßenbahnen streiken heute, hoffentlich bekomme ich den Zug noch. Vogelgezwitscher versöhnt mich mit dem neuen Tag.

[Die verwendeten Zitate entstammen den Apophthegmata Patrum. Zu den Wüstenvätern siehe auch den Weltgeflüster-Beitrag „Winterdunkel – Der bunte Wüstenfisch“].

Kategorie(n): Heiliges und Unheiliges, Mobiles und Zugiges

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