Es ist Sonntagabend. Ich packe meine Arbeitstasche für morgen, richte meine Wäsche und meinen Proviant; denke an den erneuten Streik der Busse und Straßenbahnen, der meinen Wochenbeginn bestimmen wird. Ich bin müde und bettschwer. Kurz nach acht Uhr kommt mein neunjähriger Sohn etwas beklommen angeschlichen, grinst verlegen und teilt mir mit, dass er möglicherweise morgen eine Klassenarbeit schreiben werde. Ein Telefonanruf bei einer Schulkollegin bestätigt die Annahme, von ihr erfahren wir auch den Umfang des zu lernenden Stoffes. Ich raste aus, mein Filius hatte die letzten fünf Tage schulfrei und hatte alle Zeit der Welt zur Verfügung, um sich gründlich vorbereiten. Jetzt fängt er an zu lernen und wir müden Eltern müssen wach bleiben und ihn abfragen. Seine kleine Schwester bleibt derweil ohne Gute-Nacht-Geschichte auf der Strecke. Meine Wut erreicht inzwischen die Qualität vulkanischer Eruptionen. Ich werde die Erziehungsmemoiren von Amy Chua kaufen und meinem Sprössling mit den rigiden chinesischen Erziehungsmethoden der „Tiger Mom“ Dampf unter dem Hintern machen. Meine indonesische Ehefrau protestiert lautstark gegen die angekündigte Sinisierung unseres Haushalts. Sie verteidigt malaiische Harmonie und Gelassenheit gegen chinesische Leistungsgier. Inzwischen poliere ich die Instrumente meiner geistigen Folterkammer auf Hochglanz: Fernsehverbot, nachmittags kein Fußballspielen im Volkspark, kein längeres Aufbleiben am Wochenende und und und. Ein alter ägyptischer Wüstenvater brachte die Dämonen seines Lebens in den Griff, indem er sich abmühte, dass Zorn bei ihm nicht bis zur Kehle heraufkam. Von einer solchen asketischen Höchstleistung bin ich weit entfernt. Gastritis statt Dämonen ist derzeit keine Alternative für mich. Vielleicht holt mich bald die Altersmilde ein.
[Erlebt am 12. Mai 2013; zu Amy Chua vgl. Beiträge in Wikipedia, „Spiegel“ und „Zeit“].
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