WELTTAG DES STOTTERNS

Holprige Gedankengänge

von Markus A. Maesel · 22.10.2013 · 2 Kommentare

Heute ist der Welttag des Stotterns. In dessen Umfeld erfahren die Betroffenen einmal im Jahr pflichtgemäß mediales Interesse; Otto Normalbürger und Lieschen Müller wissen dann kurzzeitig, dass in Deutschland rund 800.000 Mitbürger um Worte und Atem ringen. Besonders solidarische Menschen tragen zu diesem Anlass meergrüne Schleifen, vielleicht wurden dafür die roten vom Weltaidstag eingefärbt.

Aktivisten haben festgelegt, dass es den „Stotterer“ nicht mehr gibt, sondern nur noch „stotternde Menschen“. Anscheinend müssen dadurch menschliche Stotterer von stotternden Meerschweinchen abgegrenzt werden. Das Stottern selbst findet sich inzwischen auch unter dem Begriff „Kommunikationsstörungen“ wieder. Stotterer und Stottern landen damit in derselben Schublade wie der Mohrenkopf und das Zigeunerschnitzel.

Und natürlich kann jeder gegen sein Stottern etwas tun. Stottern ist ein lukrativer Markt, mit einem Potenzial von 1% der Menschheit. Profitorientierte Erlöser versprechen dem Stotterer Heilung, seriöse Anbieter Verbesserungen. Beispielsweise kann der Betroffene durch Zeitlupensprechen, bei dem die Vokale gedehnt werden, zu flüssigem, kontrolliertem Sprechen gelangen. Aber ist der Stotterer in dieser Künstlichkeit dann noch er selbst? Die Sprache ist doch individueller Bestandteil des Menschen.

Ein anderer Therapieansatz setzt auf radikale Konfrontation mit allen unangenehmen Sprechsituationen im Alltag. Dass  Betroffene durch dieses Abhärtungsprogramm aber auch dünnhäutig werden können, ist in diesem Konzept wohl nicht vorgesehen. Auch ist Sadomasochismus nicht jedermanns Sache. Wie bei jedem Leiden gibt es auch für Stotterer Selbsthilfegruppen – für viele der Weg ins kuschelige Ghetto. Am hilfreichsten erscheint mir noch die Gesprächstherapie, bei der es gelingen kann, Stottern als Teil des eigenen Lebens anzunehmen, anstatt es als Fremdkörper in selbstzerstörerischen Kämpfen anzufeinden.

Wer stottert, lebt trotz aller Demütigungen im Alltag in guter Gesellschaft. Zur Stottererprominenz gehören Moses (jüdischer Prophet),  Demosthenes (Redner der griechischen Antike), Aesop (griechischer Fabelautor), Vergil (römischer Dichter), Dekanawida (Begründer und Führer der Irokesen-Nation), Isaac Newton  (Wissenschaftler), Charles Darwin (Naturforscher), Marilyn Monroe (Schauspielerin), Kim Philby (britischer Spion), Winston Churchill (britischer Premierminister), W. Somerset Maugham (britischer Schriftsteller), George VI.  (König von England) – die Liste ist noch lange nicht zu Ende (vgl. beispielsweise die Liste „Berühmte Stotterer“).

Der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld hat in seiner „Geschichte eines Lebens“ eine ganz eigene Auffassung vom Stottern entwickelt: „Geläufiger Redefluss weckt meinen Argwohn. Ich bevorzuge das Stottern. Im Stottern höre ich das Reiben, die Unruhe, die Anstrengung, Wörter aus ihren Schlacken herauszuschmelzen, den Wunsch dir etwas Inneres mitzuteilen. Bei schönen, glatten Sätzen empfinde ich eine verdächtige Sauberkeit, eine Ordnung, die nur Leere verdeckt“.

Mir als mittelschwerem Stotterer kommt er mit seiner Betrachtung am nächsten. Danke Aharon.

[Auf Aharon Appelfelds Zitat bin ich durch Beiträge auf Stuttgarter-Zeitung.de und Welt.de gestoßen].

Kategorie(n): Gesellschaftliches und Wirtschaftliches

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