DAMIAN DE VEUSTER

Nächstenliebe in Zeiten der Lepra

von Markus A. Maesel · 22.12.2013 · 0 Kommentare

Unter dem Pandanusbaum neben dem Holzkirchlein, das der heiligen Philomena geweiht ist, nächtigt ein Mann in schwarzer Soutane und mit breitkrempigem Klerikerhut. Sankt Philomena ist die Schutzpatronin der Gefangenen und Gefolterten. Gefängnisartig ist die Kalaupapa genannte Landzunge, auf der das Gotteshaus liegt. Die sechseinhalb Quadratkilometer große Halbinsel ist von scharfen Klippen und rauem Meer umgeben. Eine über 500 Meter hohe, grüne Steilwand trennt sie ab vom Rest der zum Hawaii-Archipel gehörenden Insel Molokai. In Blickweite des Kirchleins stehen armselige Hütten, die etwa 600 Menschen Unterschlupf bieten und die Ansiedlung Kalawao bilden. Aus ihnen stinkt es unerträglich nach Fäulnis und Verwesung, ihre Bewohner sind von grausamen Entstellungen und offenen Wunden gezeichnet. Die Halbinsel Kalaupapa ist die Leprakolonie der Hawaii-Inseln, seit 1866 werden hier die Aussätzigen des Archipels abgeladen und sich weitgehend selbst überlassen.

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Damian de Veuster, kurz vor seinem Tod - Foto: William Brigham

Der Pater unter dem Pandanusbaum ist seit Maibeginn 1873 freiwillig in dieser menschlichen Hölle. Es ist der Flame Damian de Veuster, ein Mann von kräftiger Gestalt und 33 Jahren, der in den nächsten 16 Jahren als Pfarrer dieses Ortes ohne Wiederkehr dem staatlichen Entsorgungskonzept für Aussätzige Würde und Nächstenliebe entgegen setzen wird. Doch zunächst ekelt sich Damian de Veuster vor seinen Schäfchen, deshalb übernachtet er auch die ersten Wochen im Freien, unter dem Pandanusbaum.

Mit der Landung des britischen Kapitäns James Cook auf den Hawaii-Inseln im Januar 1778 hat die Leidensgeschichte der polynesischen Bevölkerung begonnen. Im Gefolge des weißen Mannes finden nacheinander Cholera, Pocken, Grippe, Malaria, Geschlechtskrankheiten und ab 1840 die Lepra Eingang auf die Inselkette. Bis 1870 – also innerhalb von knapp hundert Jahren – schrumpft die Bevölkerung von 250000 auf 50000 Menschen. Wirtschaft und Politik geraten immer mehr unter den Einfluss nordamerikanischer Zuckerrohrpflanzer, 1893 schaffen die weißen Siedler die einheimische Monarchie ab, 1900 annektieren die USA die Inselgruppe.

Als sich die Lepra zur Epidemie entwickelt, erlässt die Regierung Mitte der 1860er Jahre Absonderungsgesetze. Über das Aufnahmekrankenhaus in Honololu werden die Aussätzigen auf die Halbinsel Kalaupapa verfrachtet, die der Staat als natürliches Gefängnis ausgesucht hat. Mit der Isolierung der Kranken werde die Lepra im Archipel aussterben, ist die irrige Ansicht der Verantwortlichen. Da die hawaiianische Bevölkerung nicht bereit ist, sich von ihren Angehörigen zu trennen und die Quarantäne von Kranken ihrer Kultur fremd ist, kommt es zu organisierten Jagden des Gesundheitsamtes nach den Unglücklichen. Manche Gesunde folgen ihren leprösen Familienangehörigen nach Molokai und nehmen dafür die Ansteckung in Kauf.

Die Situation in der Leprakolonie ist verheerend. “Aole kanawai ma keia wahi”, werden die Neuankömmlinge begrüßt  “An diesem Ort gibt es kein Gesetz mehr”. Dem Willen der Regierung, sich durch eigene Landwirtschaft selbst zu versorgen, kommen die Ausgestoßenen nicht nach. Das jahrelange Dahinsiechen, die Verzweiflung  und das Warten auf den Tod lässt die Menschen verrohen. Es gilt nur noch das Recht des Stärkeren: Diebstahl, Schlägereien, Promiskuität, Versklavung von Kindern und Jugendlichen sowie deren sexuellen Missbrauch, Alkoholexzesse und Kartenspiel sind an der Tagesordnung. Tote, aber auch Sterbende, wirft man einfach in eine Schlucht, die man “Hoopau keaho” Krepierloch nennt. An anderen Stellen fressen Schweine die kaum verscharrten Leichen auf. Staatliche Kontrolle und Seelsorge findet nur sporadisch statt. Gelegentlich predigt ein protestantischer Pfarrer von einer Veranda herab aus sicherer Entfernung zu den Aussätzigen.

Damian de Veuster gehört der aus Frankreich stammenden Kongregation der Picpus-Missionare an. Der Papst vertraut der Gemeinschaft 1825 die Missionierung der Hawaii-Inseln an, wenig später wird der Auftrag auf ganz Polynesien ausgeweitet. Zur Zeit Damians hat sie ein Drittel der Bevölkerung Hawaiis zum Katholizismus bekehrt. In ihrem Kampf um die Seelen der Indigenen besteht ein angespanntes Verhältnis zu den protestantischen Missionaren aus den Neuengland-Staaten, die bereits vor ihnen im Archipel tätig waren und besonderen Einfluss auf die bessere Gesellschaft und auf Regierungskreise besitzen. Der auf den Namen Jozef getaufte Bauernsohn ist als siebtes von acht Kindern im frommen dörflichen Milieu von Tremelo (Flandern/Belgien) groß geworden. Die Mutter liest ihm und seinen Geschwistern oft aus einem reich verzierten Buch mit Heiligenleben vor. Die Geschichten von weltfernen Einsiedlern und Martyrern machen auf die Kinder ein nachhaltigen Eindruck. Drei der älteren Geschwister gehen ins Kloster. Jozef  lässt sich nach väterlichem Willen zunächst zum Bauern und Getreidehändler ausbilden, folgt dann aber doch seinem inneren Ruf und tritt wie sein Bruder 1859 in die Picpus-Gemeinschaft ein. Dort erhält er den Ordensnamen Damian.

Mit Beharrlichkeit lernt er Latein als Voraussetzung für das Theologiestudium nach. Er fühlt sich hingezogen zu harter körperlicher Arbeit, stillem Gebet, Einsamkeit, Schweigen und Bedürfnislosigkeit. Zeitlebens schläft er auf einem Brett oder auf dem Boden. Das Leben sieht er lediglich als Durchgangsstation zu Gott. Einen Weg, den es in der Nachfolge Christi durchaus als Kreuzweg zu bewältigen gilt. Als er beim Ritus der ewigen Prozess unter dem schwarzen Leichentuch liegt, versteht er das nicht nur symbolisch als Sterben für die Welt. Wie sein Vorbild Franz Xaver, dem großen Jesuiten und Asienmissionar, drängt es ihn zur Glaubensverkündigung in die Ferne. Er nutzt noch vor seiner Priesterweihe die Chance, sich anstatt seines kranken Bruders 1863 nach Honolulu auf der hawaiianischen Hauptinsel Oahu einzuschiffen. Am Missionskolleg von Ahuimanu schließt er seine Studien ab, empfängt 1864 die Priesterweihe, wechselt dann als seelsorgerischer Einzelkämpfer auf die von Oahu am weitesten entfernte Insel Hawaii. Dort lernt er die Landessprache, Selbstversorgung sowie Kapellenbau und konkurriert “auf dem Schlachtfeld” der Mission mit den protestantischen “Sektierern”. Die Mentalität der Eingeborenen mit ihrer aus christlicher Sicht laxen Moral erschließt sich ihm nur bedingt. Im April 1873 nimmt Damian an einer Kirchenweihe auf Maui teil, bei der auch Bischof Maigret und andere Mitbrüder seines Ordens zugegen sind. Dabei wird die Situation der aussätzigen Katholiken in Kalawao thematisiert, die ohne geistliche Begleitung leben und sterben müssen. Vier junge Geistliche, darunter auch Damian, wollen sie nach einem Rotationsprinzip dauerhaft betreuen. Damian macht den Anfang und bleibt für immer.

Er erkennt schnell, dass er für die Unberührbaren berührbar werden und ihr Leben teilen muss, wenn er von ihnen als Seelsorger akzeptiert werden möchte. Bald isst er gemeinsam mit den Aussätzigen den Tarobrei aus einer Kalebasse, raucht mit ihnen aus derselben Pfeife, verbindet ihre Wunden, verkehrt mit ihnen ohne besondere Vorsichtsmaßnahmen. Jeden Kranken besucht er einmal die Woche persönlich, packt im kümmerlichen Hospital mit an. Er leistet Hilfe über die Konfessionsgrenzen hinweg, wird zum wichtigsten Ansprechpartner für Hilfsleistungen der fernen staatlichen Verwaltung. Damian identifiziert sich als Patriarch mit seinen “armen, kranken Kindern”; er bezieht sich mit der Bezeichnung “Wir Aussätzigen” in ihre Gemeinschaft mit ein. Eigenhändig baut er den Kranken Holzhütten, legt einen Friedhof neben der Kirche an, errichtet zwei Waisenhäuser, legt eine Wasserleitung an, schafft ein Wasserreservoir zum Wäschewaschen, leitet den Hafenausbau. Er kümmert sich um Kleidung, zimmert Särge, setzt sich für eine Vieh- und Milchwirtschaft ein, schafft ein eigenes Lager für Gaben der Mission und Spenden. Ein Besucher der Kolonie beschreibt ihn als Mann, der 36 Handwerke ausübt. Er legt Süßkartoffeläcker an, bringt neun Zehntel der Leprosen dazu, in der Landwirtschaft zu arbeiten. Gegen Besäufnisse geht er mit dem Stock vor.  Er gründet eine Musikkapelle und einen Kirchenchor, die würdevolle Feste, Gottesdienste  und Beerdigungen ermöglichen. In den 16 Jahren seines Aufenthalts  erlebt er, wie sich die Bevölkerung Kalawaos dreimal erneuert. In diese Hoffnungslosigkeit bringt er Lebenssinn und Perspektive. Auch seine Ernte als Missionar ist reich: Fast alle Kranken sterben im Schoss seiner Kirche. “Große Güte allen gegenüber, zärtliche Nächstenliebe für alle Bedürftigen, sanftes Mitleiden mit den Krüppeln und Sterbenden, zusammen mit einer meinen Hörern gegebenen Unterweisung, dies war meine Methode, meine armen Kranken zu Gott zurückzuführen“, so beschreibt Damian seine Apostolatsmethode.

Der Pater zeigt sich gegenüber den Menschen stets fröhlich, ist zu Scherzen aufgelegt, bringt sie zum Lachen. Allerdings ist der große Kümmerer von lebhaft-zornigem Temperament, wenn es nicht nach seinem Kopf und seinen Plänen geht. Beharrlich fordernd und kompromisslos vertritt er die Interessen der Leprakolonie. Genervt werfen ihm seine Ordensoberen “Übereifer” vor. Hinzu kommt der Neid, als Damian zunehmend zum Liebling der nationalen und internationalen Presse wird. Und in der Öffentlichkeit das Wirken sowohl der katholischen als auch der protestantischen Hawaii-Mission in seinem Schatten fast verschwindet. Damians Popularität nimmt zu, als 1886 bekannt wird, dass er selbst an Lepra erkrankt ist. Er erhält reiche Spenden aus der ganzen Welt, besonders von anglikanischen Christen aus England; er nutzt seine Bekanntheit als früher “Fundraiser” für seine Aussätzigen.

Damians Wunsch nach einem ständigen Gefährten aus seiner Kongregation, bei dem er auch selbst geistlichen Beistand findet, kommt die Ordensleitung in Honolulu nur phasenweise nach. Jedes Mal werden ihm kranke und charakterlich schwierige Mitbrüder geschickt, die der Orden von Oahu fort haben möchte und die für Damian zur Belastung werden. Zu seiner Einsamkeit gesellt sich besonders in der Zeit seiner Lepraerkrankung Melancholie. Er findet Halt in der Spiritualität seines Ordens, aber nicht im Orden selbst. Hilfe kommt von außen: Der US-Amerikaner, Ex-Soldat, Ex-Alkoholiker und Neukatholik Ira Barnes Dutton, der über Damians Arbeit  einen  kurzen Zeitungsartikel gelesen hat, trifft 1886 in Kalawao ein und wird zu seiner wichtigsten Stütze im rastlosen Alltag. Ebenfalls kommt ihm der weitgereiste, belgische Weltpriester Louis-Lambert Conrardy 1887 zur Hilfe, der später selbst auf der Insel Shek-Lung vor der Südküste Chinas eine Leprakolonie gründet. Ende 1888 landen Franziskanerinnen unter Leitung ihrer Oberin Marianne Cope, die aus  Heppenheim stammt, auf Molokai, um sich verwaisten Mädchen anzunehmen. Als Damian am 15. April 1889 in Kalawao entstellt durch die Lepra stirbt, weiß er sein Werk in guten Händen. Damians Selbstopfer findet weltweit große Beachtung. So wird den Briten erstmals das Lepraproblem in ihrem Empire bewusst. In der katholischen wie auch protestantischen Missionsarbeit wird die Aussätzigenhilfe zum festen Bestandteil.

Auf eigenen Wunsch wird Damian in einer Gruft unter seinem Pandanusbaum bestattet. Mit der Beerdigung beginnt die Wegnahme Damians aus dem Kreis der hawaiianischen Leprosen. Seinen Sarg tragen acht weiße Aussätzige zu Grabe. Anfang 1936 werden seine sterblichen Überreste auf Wunsch der belgischen Regierung in sein Herkunftsland überführt. Erst nach seiner Seligsprechung im Juni 1995 gelangen zumindest die Knochen seiner rechten Hand in das Grab nach Kalawao zurück. Am 11. Oktober 2009 spricht Papst Benedikt XVI. Damian im Petersdom heilig. Er ist der Schutzpatron der Lepra- und Aidskranken. Der Damien-Dutton Award ist heute eine wichtige Auszeichnung für Engagement in der Leprabekämpfung. Im Capitol in Washington steht seine Statue als einer der beiden Vertreter des Bundesstaates Hawaii. Der große Mahatma Gandhi würdigt schon früh den Einzelkämpfer von Kalawao: “Die Welt der Politik und der Presse kennt nur wenige Helden, die mit Pater Damian von der Aussätzigensiedlung zu vergleichen sind. Die Mühe lohnt sich, nach der Quelle zu suchen, aus der so viel Heldentum kommt”.

[Der Beitrag ist in einer gekürzten und überarbeiten Fassung unter dem Titel „Opfergang“ in der „Rheinpfalz am Sonntag“ vom 15. Dezember 2013, S. 19 (Rubrik „Beweger“), erschienen. – Der Artikel beruht auf folgenden Quellen: Gavan Daws: Damian De Veuster. Den Aussätzigen ein Aussätziger geworden. Freiburg 1988 (amerikanische Originalausgabe 1973); Vital Jourdan: Pater Damian. Vater der Aussätzigen. Aschaffenburg 1959 (= Bibliotheka Ekklesia, Band 14); Damian De Veuster: Beten Sie für uns Aussätzige. Die letzten Briefe der letzten Jahre (1885-1889). Nettetal 1990 (= Gelebter Glaube, Band 9)].

Kategorie(n): Heiliges und Unheiliges

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