ZWISCHEN OHM UND OM

Schweigen in der U-Bahn

von Markus A. Maesel · 04.03.2014 · 1 Kommentar

Es ist die schweigsamste U-Bahnfahrt meiner bisherigen Pendlerkarriere. Seit ich am Stuttgarter Hauptbahnhof den neuen Triebwagen betreten habe, ist nur das gleichmäßige Summen des Elektromotors zu hören. Aufsteigend und absteigend, beschleunigend und entschleunigend, einatmend und ausatmend, meditativ zwischen Ohm und Om. Gelegentlich entlässt der Lautsprecher Kōans in die Stille, wie „Olgaeck“, „Peregrinastraße“ und „Rohrer Weg“. Sie geben zehn Kilometern Weg und 21 Minuten Fahrtzeit ihren ganz eigenen Takt.

Im Gegensatz zu Stillemomenten in Gottesdiensten ist hier kaum Räuspern und Hüsteln zu hören. Einige Menschen fliehen schweigend aus der Stille, indem sie stumm schreiend Botschaften in ihre Handys und Iphones tippen. Andere überbrücken die Zwangspause konzentriert mit Zeitungslektüre. Ihnen stehen Mitfahrer gegenüber, die einfach nur dasitzend Station für Station mit dem neuen Tag wach werden, innerlich gesammelt in Licht und Stille eintauchen, sanft getragen werden wie von einem prall aufgepumptem Reifenschlauch im Wasser. Dann aber auch maskenhafte Gesichter. Wie wirkt die Stille hinter diesen undurchdringlichen, spiegelglatten Fassaden? In einem Bildband über ein Trappistenkloster las ich einmal, „mit dem Schweigen verhalte es sich wie mit dem Schnee. Unter seiner Decke gehe Verschiedenes vor sich – Keimen und Fäulnis“.

Für den chinesischen Philosophen Laotse bedeutete Stille „Wurzelwiederfinden“, der Arzt und Kulturphilosoph Max Picard pries das Schweigen als „heilige Nutzlosigkeit“. Was wäre ein Musikstück ohne Pausen? Das Schweigen war vor dem Urknall und allem Sein.

Für manche Mitpendler ist die Fahrt hingegen lediglich ein letztes müdes, ausgelaugtes Innehalten vor der Arbeit. Das Schweigen der Lämmer vor dem Tagwerk. Leistungsdruck und Ödnis, die die Seelenruhe zerstören. In ihrer Kraftlosigkeit müssen sie zudem noch das Hohngelächter der Orang Utans aus dem Affenhaus der in Gegenrichtung gelegenen Wilhelma aushalten. Sie waren von Anfang an schlauer als ihre überheblichen menschlichen Verwandten. Nach einer javanischen Überlieferung könnten diese rothaarigen Menschenaffen nämlich reden, wenn sie nur wollten. Sie tun es jedoch nicht, weil sie fürchten, dann arbeiten zu müssen. Schweigen ist Gold.

Die U-Bahn erreicht die Haltestelle Leinfelden Frank. Ein erstes Sprechen an der Ausgangstür, unsere Schweigegemeinschaft löst sich auf und verteilt sich über das nahe Gewerbegebiet. Die Reden-ist-Silber-Zeit beginnt.

[Erlebt am 4. Februar 2014 in der U 5 ab 8.19 Uhr zwischen Stuttgart Hauptbahnhof und Leinfelden Frank. – Quellen: Max Picard: Die Welt des Schweigens. München 1988 (Erstausgabe Zürich 1948), S. I (Vorwort Franz Alt) u. 13; Erich Kock: Wege ins Schweigen. Limburg 1980, 2. Auflage (Erstausgabe 1978), S. 7 – der Bildband stellt die Trappistenabtei Mariawald in Heimbach (Nordeifel) vor; Brehms Tierleben. Allgemeine Kunde des Tierreichs. Die Säugetiere. (1900), S. 93 (vgl. auch Text online)].

Kategorie(n): Gesellschaftliches und Wirtschaftliches, Heiliges und Unheiliges, Mobiles und Zugiges

1 Beitrag der Leser

  • Anni

    // Mär 12, 2014 at 14:48

    Das zu lesen hat mich berührt. Dankeschön :)

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