SCHLAFSTÖRER

Tapir in der Nacht

von Markus A. Maesel · 14.04.2014 · 0 Kommentare

Schon wieder tappt dieser unruhige Tapir durch meine Schlaflosigkeit. Nachts um drei Uhr schleicht er zwischen meinen Gedanken über Familie, Arbeit, Fernpendeln und einer Liste nicht getaner Dinge herum. Über ein Bilderbuch meiner Tochter hat er sich im Dschungel meiner grauen Zellen niedergelassen, die tropischen Regenwälder Südostasiens und Amerikas nicht vermissend. Das Kinderbuch stellte uns den Unpaarhufer in harmlos-heimelig daherkommenden Paarreimen vor:

„Tief im Urwald, in der Nacht,

ist der Tapir aufgewacht,

tappt auf seinem Tapir-Pfad

schnell zum Fluss und nimmt ein Bad“.

Doch die Reime sind tückisch. Sie sind so simpel, dass sie gar nicht mehr aus meinem nächtlichen Grübelsortiment weichen wollen. Warum muss sich der Tapir ausgerechnet jetzt mit seinen knapp 300 Kilogramm Körpermasse durch meine Gedankenwelt zum Fluss wälzen? Möge ihn ein Krokodil beim Baden in seinen fetten Hintern beißen.

Der Kulturphilosoph Max Picard schrieb einmal: „Darum ist der Mensch heute ohne Schlaf, weil er ohne Schweigen ist: im Schlaf kehrt der Mensch mit dem Schweigen, das in ihm selbst ist, zurück ins allgemeine große Schweigen. Aber dem Menschen heute fehlt das Schweigen, das ihn zum allgemeinen großen Schweigen des Schlafes hingeleitet. Schlaf ist heute nur Ermüdung durch das Laute, Reaktion auf das Laute, es ist keine Welt mehr für sich“. Gilt das nicht nur für mich, sondern auch für den modernen Tapir, der anscheinend nachtaktiver als seine Vorfahren ist? Stress, Grübelei und Schlaflosigkeit wegen Regenwaldabholzung? Die ruhelose Lärmwelt der Motorsägen? Vielleicht sind aber auch solche Überlegungen bezüglich des Tapirs zu hoch angesetzt. Schließlich urteilte schon Brehms Tierleben vor mehr als hundert Jahren über die intellektuellen Fähigkeiten des scheuen Weichfutterfressers: „Im übrigen ist die geistige Begabung der Tapire freilich gering, obwohl die Tiere auf den ersten Blick hin noch viel stumpfsinniger erscheinen, als sie wirklich sind“. Lieb, aber doof steht als Brehmsche Gesamtbewertung für den nächtlichen Pfadewandler.

In zwei Stunden werde ich den Treppenpfad entlang zum Bad wandeln. Wenn ich dann die Dusche aufdrehe, denken die Nachbarn sicherlich auch: „Warum muss dieser tumbe Tapir immer so früh ins Bad tappen und unseren Schlaf kaputt machen? Der Jaguar soll ihn holen“. Bis dahin versuche ich zumindest noch etwas zu dösen. Ruhe in Tapiristan. Irgendwo in der Ferne höre ich die sanfte Weise von Frank Sinatras neuestem Hit „Tapirs in the Night“.

[Quellen: Im Regenwald. Mit Reimen von Salah Naoura und Bildern von Paul Hess. Mannheim 1999 (= Meyers kleine Tierwelt); Max Picard: Die Welt des Schweigens. München 1988 (Erstausgabe Zürich 1948), S. 224; Brehms Tierleben. Allgemeine Kunde des Tierreichs. Die Säugetiere. 3. Band, 3. Auflage Leipzig/Wien 1900, S. 94 (vgl. auch Text online). – Zum Thema Paarreime und Schlaflosigkeit siehe hier auf Weltgeflüster auch „Tsin, du Wunderbare“].

Kategorie(n): Sonstiges und Undefinierbares, Tierisches und Pflanzliches

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