UNSTERBLICHKEIT

Gilgamesch und ich

von Markus A. Maesel · 26.10.2014 · 3 Kommentare

Eine Allee fahlgelb leuchtender Straßenlaternen weist den Weg durch das herbstliche Morgendunkel zur Bushaltestelle. Die nasskalte Luft mischt sich mit dem Geruch frischen Hundekots, der im Gras dem neuen Tag entgegen dampft. „Wollen Sie ewig leben?“, fragt ein hinterleuchtetes Plakat am Straßenrand nach einigen Stationen im Bus. Es wirbt für eine Theateraufführung des Gilgamesch-Epos. Das G von Gilgamesch bildet eine archaisch gestaltete, dunkelrote Schlange. Ihr züngelnder Kopf scheint sich zu bewegen, ihre Augen fixieren mich. „Wollen Sie ewig leben?“, wiederholt das Reptil mit zischender Eindringlichkeit die Frage. Mein deutliches „Nein“ lässt das Kriechtier zusammenzucken.

Angenommen der medizinische Fortschritt würde dem menschlichen Körper Unsterblichkeit verleihen. Könnte auch die menschliche Seele mehr als ein normales Menschenleben ertragen? Noch mehr Auf und Ab? Noch mehr Erfolgs- und Kränkungsgeschichten? Noch mehr Kampf um die tägliche Existenz, noch mehr Sorgen und Nöte, Hektik und Ruhelosigkeit? Noch mehr Luxus, Armut, Events und Kreuzwege? Wäre nach einem Weg von zwei Menschenleben der Homo sapiens nicht eine vollkommen emotional ausgebrannte, rußige Hülle? Der dann weder mit guten noch schlechten Erinnerungen diesen Planeten verlassen würde? Nach zwei Haltestellen mit der Straßenbahn widerspricht mir keck ein neonfarbener Joggingschuh, wieder auf einem hinterleuchteten Plakat: „Dieser Weg wird ein leichter sein“. „Jungdynamischer Klugscheißer“, denke ich.

König Gilgamesch von Uruk hatte, erschüttert durch den Tod seines Freundes Enkidu, die Suche nach Unsterblichkeit fast verrückt gemacht. Unsterblich wurde lediglich seine Geschichte, die vor fast 4500 Jahren in Mesopotamien mit Keilschrift in Tontafeln eingeritzt wurde. Mir ist diese Suche fremd. Bereits als kleiner Messdiener gewann ich ein Kirchenlied lieb, das leider nur bei Sterbeämtern gesungen wurde. Inbrünstig sang ich immer mit: „Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh mit mancherlei Beschwerden der ewigen Heimat zu“. Aufgrund meiner biographischen Prägungen hatte ich bisher noch keine Probleme, Leben lediglich als Durchgangsstation zu begreifen. Wenn ich einst alt mit einem Kissen im Rücken und einer Decke über den Beinen in meinem Bambusschaukelstuhl sitze und durch das Fenster in den kleinen Garten schaue, werde ich auf die Liste meines Lebens blicken. Hoffentlich werde ich dann erleichtert viele Haken hinter erfüllten, notwendigen  Pflichten sehen, sodass ich mich dann zu meiner Kraftlosigkeit bekennen und dankbar loslassen darf. Vertrauensvoll fallen in die Hände meines Schöpfers, Tango tanzend mit dem knochigen Sensenmann um den Winterflieder im Garten. Lachen über weltliche Unsterblichkeitsgelüste, die den Weg zu wahrer Unsterblichkeit blockieren. Frühstück mit Gilgamesch. Das letzte Plakat, das ich kurz vor dem Hauptbahnhof wahrnehme, kündet von einem Tarzan-Musical – „nur in Stuttgart“. Welch irdische Verheißung.

Kategorie(n): Gesellschaftliches und Wirtschaftliches, Heiliges und Unheiliges, Mobiles und Zugiges

3 Beiträge der Leser

  • Markus A. Maesel

    // Okt 26, 2014 at 18:37

    Nachträge

    Eine gute Zusammenfassung des Gilgamesch-Epos findet sich hier: http://www.mesopotamien.de/einfuehrung/babylonisch.htm

    Das Gilgamesch-Epos wird derzeit im Pfalzbau, Ludwigshafen am Rhein, aufgeführt: http://www.theater-im-pfalzbau.de/x-festspiele/gilgamesch.html

  • Anne

    // Okt 27, 2014 at 19:23

    Wie immer amüsant zu lesen! Und vielen Dank für den Hinweis auf die Theateraufführung!

    Liebe Grüße

    Anne

  • Hans Waizenegger

    // Dez 10, 2014 at 11:32

    Lieber Markus,
    deine Kommentar nach der Aufführung haben mich neugierig auf diesen Blog werden lassen. Deinen ansprechenden, verständigen Beitrag las ich mit Genuss. Du erinnerst dich: Die Schlange hat Gilgamesch den Weg zur Erkenntnis eröffnet und von der müßigen Suche nach Unsterblichkeit geheilt. In Uruk und schon fast im sterblichen Leben angekommen, öffnet Gilgamesch die Dose Bier und trinkt davon, “wie es die Menschen tun”. Erst jetzt packt der revoltierende 2/3 Gott seine Aufgaben als Mensch an und beginnt all das zu begreifen, was dir schon in die Wiege gelegt war. Ich würde mich freuen, deine Eindrücke von der Aufführung zu lesen.

    Herzliche Grüße aus Edenkoben

    -Hans, Dein Fallensteller von Uruk der Hürdenumgebenen

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