URLAUBSREIF

Emser Depesche

von Markus A. Maesel · 20.03.2015 · 0 Kommentare

Im Pfarrgarten der evangelischen Martinskirche in Bad Ems befindet sich eine Ansammlung repräsentativer, historischer Grabsteine. Auf einem der ältesten, den am unteren Ende ein Totenschädel mit zwei gekreuzten Knochen ziert, wird eines „entseelten“ Menschen gedacht.

„Entseelt“ passt auch für den durchorganisierten, effizienten Homo oeconomicus unseres gerade angebrochenen Jahrtausends, gehetztes Leben zwischen zwei Jahresurlauben. Schleichende Entseelung und Leere durch Berufs- und Alltagskleinkram. Entseelte Menschen sind heute lebende Menschen, die vielleicht erst durch die letzte Ruhe wieder beseelt werden. Dieses Mal muss es vor dem Urlaub schlimm mit mir gewesen sein, wenn ich den Warnruf meiner siebenjährigen Tochter ernst nehme: „ Papa, du musst durchhalten, ich möchte dich noch meinen Kindern vorstellen“. Aber wie soll ich das mit 45 Jahren Altersunterschied zu meiner Tochter noch schaffen?

Mein Urlaubsgefühl stellt sich ein, als ich den Kurpark von Bad Ems betrete, der sich mit seinen Prachtanlagen die Lahn hochzieht. Hier trafen sich im 19. Jahrhundert die Mächtigen, Reichen und Schönen Europas, um Gesundung und Erholung zu finden. Ein mächtiger Ginkgo-Baum begrüßt den Spaziergänger an der Uferpromenade. Den Ginkgo hat die Evolution zum lebenden Fossil gemacht. Seit mehr als 300 Millionen Jahren behauptet sich der Fächerblattbaum schon auf der Erde. Selbst gegen die Atombombe von Hiroshima blieb er der Stärkere. Nur 800 Meter vom Detonationszentrum der Megabombe entfernt sprossen ein Jahr später aus dem Wurzelstock eines zerstörten Ginkgos neue Triebe. Protest des Lebens gegen entseelende atombombengestützte Allmachtsphantasien.

Auf dem Rasen imponiert die beschwingte Metallskulptur einer nackten Tänzerin. Sie steht auf den Zehenspitzen des linken Fußes, das rechte Bein weit nach hinten ausgestreckt, die beiden Arme anmutig nach hinten geworfen. Die kleinen spitzen Brüste reckt sie kess in die Morgensonne. Ebenfalls im Morgenlicht schimmern die mit Tautropfen belegten Fäden eines Netzes, welche eine schamhafte Spinne zwischen den Beinen der grazilen Nackten gesponnen hat. Das Pendant zu ihrer Leichtigkeit bildet das Vier-Türme-Haus im Hintergrund, das dem russischen Zaren Alexander II. oft Heimstatt bot. Hier unterzeichnete er 1876 den Emser Erlass, der die Unterdrückung der ukrainischen Kultur im Zarenreich möglich machte. Wie nahe die blühende Unbekümmertheit des Kurparks dem heutigen Gemetzel zwischen Russen und Ukrainern doch ist. Dass Russen fester Bestandteil des damaligen Jetsets in Bad Ems waren, zeigen das unmittelbar am Kurpark gelegene Hotel de Russie und die kleine russisch-orthodoxe Kirche auf der anderen Lahnseite. Gold und blau glänzen ihre Zwiebeltürmchen in der Morgensonne.

Ein Standbild des preußischen Königs Wilhelm I. im Kurpark erinnert daran, dass dieser in Bad Ems zwanzig Jahre lang seinen Urlaub verbrachte. An der Uferpromenade weiter flussaufwärts verweist ein Gedenkstein auf die schicksalhafte Unterredung des Monarchen mit dem französischen Botschafter Graf Benedetti, die hier am Morgen des 13. Juli 1870 stattfand. Sie mündete über die berühmte Emser Depesche in den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Auch hier gebar die Kurpark-Idylle zigtausende entseelte Menschen. Ist es der gewöhnungsbedürftige schweflige Geschmack des hiesigen Heilwassers, der den Durst auf Blut und Unterdrückung weckt? Das langgestreckte, im neubarocken Stil errichtete Kurhaus bildet wiederum eine deutsch-französische Brücke. Hier begeisterte Jacques Offenbach viele Jahre als Kapellmeister das internationale Publikum. In den Kriegswirren 1870 wurde der Operettenkomponist dann allerdings von den Franzosen als deutscher Spion und von den Deutschen als Vaterlandsverräter beschimpft. Zerrieben zwischen zwei Kulturen.

Gegenüber dem Kurhaus, auf der anderen Lahnseite, liegt das Statistische Landesamt, das nüchtern und schonungslos das Leben der Rheinland-Pfälzer in Zahlen und Tabellen zerlegt. Die drohende Nichturlaubswelt des Homo oeconomicus. Doch ich sitze entspannt auf einer Parkbank, versuche dessen Zahlenwelt und den Missbrauch der Kuroase durch die Mächtigen unseres Kontinents zu ignorieren, vertrauend auf die Beseelung des noch jungen Tages durch die nackte Tanzende und den Reigen der blauen Libellen auf dem Fluss. In der mich umgebenden Blumenpracht fehlt nur noch der melancholisch-holprige Tango eines Kurorchesters zu meinem Glück.

[Erlebt am 6. August 2014].

Kategorie(n): Geschichtliches und Völkerkundliches, Gesellschaftliches und Wirtschaftliches

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