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Gott nach Auschwitz

von Markus A. Maesel · 27.06.2008 · 0 Kommentare

Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Oberleutnant Sergejew gehörte zu den ersten, die das Vernichtungslager betraten und das Ausmaß des industriellen Massenmordens der Nazis sahen. Nach dem Anblick der noch brennenden Krematoriumsöfen sagte er mit erschrockener, stockender Stimme: „Das kann doch nicht sein, mitten im 20. Jahrhundert“. „Ich kann nicht begreifen“, fuhr der Oberleutnant fort, „dass solche Grausamkeit möglich ist. Wenn es einen Gott gäbe, könnte er vielleicht erklären, warum es dazu gekommen ist“.

Diese Frage stellten sich auch viele Menschen, die vor Auschwitz an die Allmacht und Güte Gottes geglaubt hatten. Philosophen und Theologen suchten nach Antworten. Besonders jüdische Gottesgelehrte rangen, angesichts der sechs Millionen Opfer des antisemitischen Rassenwahns, um ihr Verhältnis zu Gott. Alle Erklärungsversuche fasste man später unter dem Begriff „Holocaust-Theologie“ zusammen.

Für die einen war Auschwitz der Beleg für die Nichtexistenz Gottes; für noch Gläubige der Beweis, dass Gott nicht allmächtig sei oder für sein Desinteresse an dieser Welt. Andere glaubten an eine temporäre Gottesfinsternis oder eine gerechte Strafe Gottes an seinem Volk für die Abkehr von orthodox-jüdischen Traditionen. Weitere sprachen Gott frei und sahen Auschwitz als Preis für die Willensfreiheit, die er den Menschen gegeben habe. Auch findet man die Ansicht, dass der allmächtige Gott und sein Walten mit den engen Grenzen des menschlichen Verstands nicht zu erklären und rechtfertigen sei.

Einen eigenen Weg, mit Gott nach 1945 umzugehen, fand ein polnischer Jude, von dem der amerikanische Rabbi und Bürgerrechtler Abraham Joshua Heschel erzählt. Dieser hatte mit Beten aufgehört, „wegen all dem, was in Auschwitz geschehen ist“. Später jedoch begann er wieder zu beten. Als er deshalb gefragt wurde: „Was hat Sie zu dieser Gesinnungsänderung bewogen?“, gab er zur Antwort: „Es kam mir plötzlich zum Bewusstsein, wie einsam Gott sein muss; sehen Sie doch, mit wem er übrig bleibt. Er hat mir Leid getan“.

 
[Die Episode über den polnischen Juden findet sich bei Abraham Joshua Heschel: A Passion for Truth. New York 1973, S. 303. Sie wurde zitiert nach Henri J. M. Nouwen: Ich hörte auf die Stille. Sieben Monate im Trappistenkloster. Freiburg/Basel/Wien 1982, 7. Auflage, S.134].

Kategorie(n): Geschichtliches und Völkerkundliches, Gesellschaftliches und Wirtschaftliches, Heiliges und Unheiliges

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