ANRÜCHIGES

Lebensansichten

von Markus A. Maesel · 22.07.2008 · 1 Kommentar

Pendeln zwischen den Großstädten – 300 km am Tag, 1500 km in der Woche, weniger als sieben Monate bis zur statistischen Äquatorumrundung. Der ICE rast durch das frühmorgendliche Dunkel, die zahlreichen Tunnels auf der Strecke sind wie Geburtskanäle, durch die im Schlaf geborgene Getriebene schrittweise als Arbeitnehmer in die Welt entlassen werden. Computer hochfahren, Frühstückstee kochen, E-Mails abrufen – die gewohnten Arbeitsabläufe diktieren den Tag. Aus dem Fenster sind auf der Autobahn die lichtblinkenden Schlangen der verspäteten Büroangestellten zu sehen.

Nachmittags verlasse ich die Stuttgarter Klett-Passage auf der Rolltreppe in Richtung Hauptbahnhof. Oben an der seitlichen Brüstung steht ein Tippelbruder mit langen, blondweißen Haaren und Bart. Ihn umhüllt ein grauer Mantel und süßlicher Alkoholdunst. „Das Leben ist eine Hure“, brüllt er in den Treppenschacht und spült seine Erkenntnis sogleich angeekelt mit einem kräftigen Schluck aus der Schnapsflasche hinunter. Vielleicht ist das Leben auch nur ein unter der Bettdecke erstickter Furz, denke ich zuhause in meinen vier Wänden. In bürgerlicher Selbstzähmung spüle ich meine Überlegung mit einem Schluck Tee hinunter. Von Ferne dringt der Geruch von billigem Kirschwasser durch die Mauern, die Blume des Darjeeling kann ihn nicht verdrängen.

Kategorie(n): Gesellschaftliches und Wirtschaftliches, Kurpfälzisches und Südwestdeutsches, Mobiles und Zugiges

1 Beitrag der Leser

  • Reddisch

    // Jul 22, 2008 at 20:29

    Lieber Markus, habe ich ein Glück - bei mir sind es 2 km am Tag, 10 km in der Woche, 2200 km im Jahr. Was ich im Jahr zurücklege, legst du in 1 1/2 Wochen hin. Die Kilometer sind aber nicht das Schlimmste, sondern die wertvolle Zeit.

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