MOBILE VERSTIMMUNGEN

Trauriges Seelengurgeln

von Markus A. Maesel · 17.09.2008 · 0 Kommentare

Manchmal hasse ich als Fernpendler jede Fortbewegung, die einem Motor entspringt. Allein die Vorstellung, in Omnibusse, Straßenbahnen, Züge, U-Bahnen oder Autos einsteigen zu müssen, löst dann in meinen Beinen bleierne Schwere aus. Alles Unglück der Menschen rühre daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen. Diese Überzeugung vertrat vor mehr als dreihundert Jahren der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal. Und ich glaube es an solchen Tagen auch. Dann bin ich neidisch auf jeden Kartäusermönch, der in seiner Einsiedlerzelle mit Gärtchen aus der Pascalschen Erkenntnis seine Schlüsse gezogen hat.

Jetzt am heimischen Esszimmertisch sitzen und mit einer Tasse heißem Tee den erwachenden Morgen begrüßen. Stattdessen verhallt mein stummer Schrei nach Entschleunigung meines Lebens bei mehr als zweihundert Stundenkilometern im grauen Tunnelbeton. Notebooks als Irrlichter willenloser Mobilität weisen den Weg durch das Dunkel – kalt leuchtende Fackeln in den bleichen Fingern postmoderner Wirtschaftsnomaden. Sind das nicht die von ihren Maschinen und der Shareholder Value angetriebenen, grenzenlos verfügbaren Singles im „Kapitalistenkloster“, wie es der Journalist Carl D. Goerdeler einmal formulierte? Sie sind wie ich Teil einer Völkerwanderung, die zwischenmenschliche Beziehungen nur noch in der Erinnerung zulässt. Rastlose Coffee-to-go-Sklaven in Bahnhöfen und Wartehallen.

Leider kann der mexikanische Karikaturist José Guadalupe Posada unsere hypermobile Zeit nicht mehr erleben. Er liebte es, Menschen in Alltagsszenen, Ämtern und Würden als kommunizierende Skelette darzustellen. Hätte er meine Mitreisenden und mich im Zugwaggon auf Papier gebannt, wäre das eine Aufwertung des tatsächlich vorhandenen Stimmungsbildes gewesen. Denn seine Knochenfrauen und –männer strahlen mehr Lebensfreude und Vitalität aus, als wir befleischten Globalisierungs- und Flexibilisierungsmarionetten. Was hat denn auch ein Skelett noch Schlimmes vom Leben zu befürchten?

Schluss jetzt mit dem „traurigen Seelengurgeln“, wie der hypochondrische Burggraf Bodo von Ebereck aus der Augsburger Puppenkiste („Das Burggespenst Lülü“) meinen Zustand beschreiben würde. Hätte ich doch zumindest für diesen Tag Blaise Pascal beherzigt und wäre in meinem Zimmer geblieben. Mit einem großen Schild an der Tür, auf dem zu lesen ist: „Heute ist Depri-Tag“. Natürlich in fetten, tiefschwarzen Buchstaben.

[Vgl. Carl D. Goerdeler: Im Kapitalistenkloster. In: „Die Rheinpfalz“ vom 11. Mai 2000].

Kategorie(n): Gesellschaftliches und Wirtschaftliches, Makaberes und Skurriles, Mobiles und Zugiges

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