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Nachgedanken zu Sankt Martin

von Markus A. Maesel · 18.11.2009 · 0 Kommentare

Mein kleiner Sohn steht noch unter dem Eindruck des Martinsgeschehens und ist nach seinem Mitwirken beim Martinsspiel von der Botschaft des Teilens beseelt. Er schlägt uns beim Abendbrot vor: „Wir schicken in die armen Länder Geld, Essen, Kleider – und eine Blume“.

Unwillkürlich muss ich dabei an die Begegnung des deutschen Schriftstellers Rainer Maria Rilke mit einer Bettlerin Anfang des 20. Jahrhunderts in der französischen Hauptstadt denken: „Rilke ging in der Zeit seines Pariser Aufenthaltes regelmäßig über einen Platz, an dem eine Bettlerin saß, die um Geld anhielt. Ohne je aufzublicken, ohne ein Zeichen des Bittens oder Dankens zu äußern, saß die Frau hier am gleichen Ort. Rilke gab nie etwas, seine französische Begleiterin warf ihr häufig ein Geldstück hin. Eines Tages fragte die Französin verwundert, warum er nichts gebe. Rilke antwortete: ‚Wir müssten ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand’. Wenige Tage später brachte Rilke eine eben aufgeblühte weiße Rose mit, legte sie in die offene, abgezehrte Hand der Bettlerin und wollte weitergehen. Da geschah das Unerwartete: Die Bettlerin blickte auf, sah den Geber, erhob sich mühsam von der Erde, tastete nach der Hand des fremden Mannes, küsste sie und ging mit der Rose davon. Eine Woche lang war die Alte verschwunden; der Platz, an dem sie vorher gebettelt hatte, blieb leer. Nach acht Tagen saß sie plötzlich wieder wie früher an der gewohnten Stelle. Sie war stumm wie damals, wiederum nur ihre Bedürftigkeit zeigend durch die ausgestreckte Hand. ‚Aber wovon hat sie denn in all den Tagen gelebt?’, fragte die Französin. Rilke antwortete: ‚Von der Rose’“.

Die biblische Weisheit „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ ist reich an Spielarten und Farben.

[Die Urfassung der Rilke-Geschichte findet sich bei Maria Paschen: Die weiße Rose. In: Rainer Maria Rilke. Stimmen der Freude. Ein Gedächtnisbuch. Hrsg. von Gert Buchheit, Freiburg: Urban Verlag, 1931 (vgl. Rilke-Forum). – Von der Erzählung sind sehr unterschiedliche Fassungen im Umlauf. Da ich derzeit nicht an das Original herankomme, zitiere ich die Version auf der Website der Abtei Kornelimünster].

Kategorie(n): Ausgekramtes und Entdecktes, Gesellschaftliches und Wirtschaftliches, Heiliges und Unheiliges

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