FLORISTISCHER SCHULDKOMPLEX

Dornenkrone

von Markus A. Maesel · 09.04.2010 · 4 Kommentare

Der Karfreitag ist auch ein Tag der Schuldzuweisungen. Wer ist für Jesu Tod am Kreuz verantwortlich? Der Tempelklerus? Der römische Statthalter Pontius Pilatus? Judas Iskariot mit seiner Geldgier? Der aufgebrachte Mob, der die Begnadigung des Straßenräubers Barabbas statt die von Jesus forderte? Das allgemeine Sündenregister des Homo sapiens?

Während die Menschheit über ihr Versagen nachsinnt, kann sich die Tierwelt entspannt zurücklehnen. Sie hatte am Karfreitag alles richtig gemacht. Der Hahn hatte pflichtbewusst dreimal gekräht, als der Jünger Petrus seinen Meister verleugnete. Der Esel hatte eine Woche zuvor an Palmsonntag den Gottessohn auf seinem Rücken geduldig und ehrfurchtsvoll durch Jerusalem getragen. Außerdem stand bereits sein Vorfahr an der Krippe in Bethlehem und wärmte, unterstützt von dem Ochsen, das Jesuskind mit seinem Atem. Und wenn man Albrecht Dürer Glauben schenken darf, war bei der Geißelung Christi mitfühlend ein Affenpinscher zugegen. Er findet sich in Dürers Passionsbild neben der noch am Boden liegenden Dornenkrone.

Genau wegen dieser herrscht hingegen unter den Pflanzen betretenes Schweigen. Sie quält seit zweitausend Jahren die Frage: Welches Gewächs hatte sich den Römern für die Dornenkrone angebiedert, die Jesus zur Peinigung und Demütigung auf den Kopf gedrückt worden war? Unerträglich für die Flora schallt es zudem seit mehr als dreihundert Jahren am Karfreitag anklagend aus den Kirchen: „O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt, zum Spott gebunden mit einer Dornenkron’“.

Ein früher Versuch, dieses dunkle Kapitel der Pflanzengeschichte aufzuarbeiten, war ins Leere gelaufen. Damals hatte – so ist es in einer Erzählung aus Posen überliefert – der Kreuzdorn die Schlehe beschuldigt, ihre stachligen Zweige für die Dornenkrone Jesu zur Verfügung gestellt zu haben. Daraufhin versah Gottvater die bis dahin unscheinbare Schlehe über Nacht mit weißen Blüten, die sie bis heute trägt. Weiß ist die Farbe der Unschuld, das göttliche Alibi war unanfechtbar. Auch der handelsübliche Christusdorn (Gleditsia triacanthos L.) konnte mit einem klaren Unschuldsbeweis allen Verdächtigungen entgegen treten. Zur Zeit der Kreuzigung Jesu war er nur in Nordamerika verbreitet. Wieder herrschte lauerndes Schweigen im Pflanzenreich.

Unerwartet kam den unter ihrem Schuldkomplex langsam erstickenden Pflanzen 1992 ein nicht näher benannter Herr D. zu Hilfe. Er machte sich auf die Suche nach dem botanischen Iskariot und veröffentlichte seine Ergebnisse in einer Holzfachzeitschrift. In einer Art Indizienprozess ging er der Frage nach, welche dornenbewehrten Bäume und Sträucher im alten Israel überhaupt wuchsen. Und welche sich aufgrund ihrer Materialeigenschaften für das Flechten einer Dornenkrone eigneten. Herr D. vermutete die Verdächtigen unter den Angehörigen der Familie Rhamnaceae. Besonders im Blick hatte er dabei die Gattung Zizyphus mit den Spezies Zizyphus spina-Christi sowie den ebenfalls zur Familie gehörenden Christus-Stechdorn Paliurus spina-Christi Mill. Aber den Stab über ein bestimmtes Gehölz wollte auch er nicht brechen und zog sich in seinem Resümee lieber auf das Eingeständnis zurück: „Aus welchem Holz diese Dornenkrone war, das weiß man bis heute nicht genau“. Zumindest wussten die Pflanzen nun, wer nicht als Täter in Frage kam. Die Stimmung in der Familie Rhamnaceae dürfte hingegen seit der Veröffentlichung gereizt und von Misstrauen geprägt sein.

Eine Blume beteiligte sich nicht an den gegenseitigen Verdächtigungen in der Flora. Unbemerkt und stellvertretend für die gesamte Pflanzenwelt tat sie Buße für die Dornenkrone, die den Gottessohn gepeinigt hatte. Ihre Blüten verwandelte sie in Symbole der Passion Christi. Zehn Blütenblätter stehen seitdem für die Apostel ohne Judas und Petrus. Die Nebenkrone wurde zu einem Abbild der Dornenkrone, fünf Staubblätter weisen auf die fünf Wunden Jesu hin, die drei Griffel wurden zu Kreuzesnägeln. Die Sprossranken symbolisieren die Geißeln. Fromme Einwanderer in Mittel- und Südamerika erkannten ihre hochherzige Absicht und nannten sie Passionsblume – Passiflora incarnata – die fleischgewordene Passion.

Trotz der botanischen Aktion Sühnezeichen, die die Passionsblume verkörpert, bleibt die Frage nach dem Kollaborateur im Pflanzenreich offen. Beihilfe zum Gottesmord verjährt nicht. Nach Abschaffung der Inquisition ist auch keine peinliche Befragung der Familie Rhamnaceae mehr möglich, um den Täterkreis noch weiter einzuschränken. Vielleicht lässt sich der oder die Verantwortliche für die Dornenkrone durch einen liberalen Täter-Opfer-Ausgleich oder die Einberufung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission nach südafrikanischem Muster locken. Dornenvögel mögen dieses Angebot in der Pflanzenwelt verkünden.

Quellen, die als Vorlage dienten und für die Geschichte umgeformt wurden: Eine Google-Recherche mit den Begriffen „Schlehe“ und „Dornenkrone“ liefert unterschiedliche Varianten der Legende aus Posen; D.: Welches Gehölz war die Dornenkrone Christi wirklich? In: Holz-Zentralblatt Nr. 46/47 vom 15. April 1992, S. 727; Artikel „Passionsblumen“. In: Wikipedia.

Kategorie(n): Heiliges und Unheiliges, Tierisches und Pflanzliches

4 Beiträge der Leser

  • Heriman

    // Apr 9, 2010 at 09:40

    Hallo,

    das ist genau wieder so ein Artikel, weshalb ich Weltgeflüster so gerne lese. Fein ironisch, voller Humor, aber ungemein tiefgründig und vielschichtig. Ich glaube ihn richtig verstanden zu haben, dass es hier nicht um die Schuld von Reliquien zweiter Klasse geht.

    Nur zu einem der vielen Aspekte: Aktionistische Schuldzuweisungen dienen weniger der Gerechtigkeit, sondern bedienen die Sensationsgier der Haberfeldtreiber. Auch führt die Aussage “die Rhamnaceen sind an allem Schuld” bekannterweise nur zum Heckenzündeln und zur Ablenkung von den tatsächlich Schuldigen.

    Aufklärung und Sühne tut zwar not und sie muss ehrlich, sinnvoll und angemessen sein. Mit globalen Verdammungen einer ganzen “Pflanzenart” ist aber generell niemandem gedient, gleichgültig, ob es hier um falsche Anschuldigungen gegenüber einer ganzen Religionsgemeinschaft oder um in Einzelfällen berechtigte Anschuldigungen gegen Artgenossen des Ralph de Bricassart geht.

    Viele Grüße,
    Heriman

  • Anne

    // Apr 9, 2010 at 13:39

    Hallo Markus,

    hab’s mit Vergnügen gelesen!

    Liebe Grüße

    Anne

  • Helga

    // Apr 10, 2010 at 21:12

    Lieber Markus,
    wie üblich habe ich viel gelernt und dies auch noch mit viel Spaß bei deinen grandiosen Wortgeflechten.
    Danke und liebe Grüße
    Helga

  • Markus A. Maesel

    // Apr 2, 2015 at 12:35

    Der Beitrag ist jetzt auch, leicht überarbeitet, im Druck erschienen – Markus A. Maesel: Dornenkrone. Eine eigenwillige, botanisch-hölzerne Karfreitagsgeschichte. In: Holz-Zentralblatt Nr. 14 vom 2.04.2015, S. 321.

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Kommentar: