AHNENBESUCHE

Der Bambusspeer

von Markus A. Maesel · 26.08.2008 · 1 Kommentar

Die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits sind fließend. Diese Erfahrung machten meine Frau und ich vor drei Jahren, als wir mit Kleinkind ihre Eltern im äußersten Nordosten der indonesischen Insel Sulawesi besuchten. Zwei Tage Reisezeit mit mehr als 13000 Kilometern mussten bewältigt werden, bis wir erschöpft das Minahasa-Dorf Kaima erreichten. Wir sehnten uns nur noch nach Ruhe und Erholung.

Doch die nächsten Nächte konnte unser kleiner Sohn nicht schlafen und schrie ohne Unterlass – im hellhörigen Minahasa-Holzbau für den ganzen Familienklan gut vernehmbar. Dann folgte plötzlich die Nacht, in der er friedlich durchschlief. Am nächsten Morgen fanden wir vor unserem Zimmerfenster einen Bambusspeer in den Boden gerammt, an dessen Schaftende unterschiedliche Früchte befestigt waren. Grinsend meinte mein Schwiegervater: „Heute hat euer Kind gut geschlafen“. Wie hing das alles zusammen? Meine Frau begab sich zum Palaver in den Schoß ihrer Herkunftsfamilie.

Des Rätsels Lösung war einfach und kompliziert zugleich. Wir hatten es bei unserer Ankunft in Kaima versäumt, gleich auf den Friedhof zu gehen und unseren damals 15 Monate alten Jungen seinen lange schon verstorbenen Urgroßeltern vorzustellen. Deshalb kamen ihre Totengeister nachts an unsere Schlafstätte, um den neuen Urenkel zu begutachten. Ihre Nähe spürte das Kind, machte es unruhig und brachte es zum Weinen. Auch gilt es bei den Minahasa als nicht ungefährlich, wenn sich Ahnengeister zu oft einem jungen Leben nähern.

Deshalb hatte mein Schwiegervater in einem nächtlichen Ritual den umherschweifenden Seelen seiner Eltern bedeutet, dass sie das neue Familienmitglied bereits mehrmals gesehen hätten und dass es nun genug mit den Besuchen sei. Sie sollten auf den Dorffriedhof zurückkehren und wieder zur Ruhe kommen. Der in den Boden gebohrte Bambusspeer mit den Opfergaben unterstrich die Zeremonie. Das ganze Procedere muss die Urgroßeltern ziemlich beeindruckt haben. Sie nahmen offensichtlich von weiteren nächtlichen Exkursionen Abstand, da unser Junge die nächsten Wochen fest in Morpheus’ Armen schlummerte.

PS: Nur unromantische Rationalisten werden jetzt behaupten, dass das alles lediglich ganz normale Folgen des Jetlags gewesen seien.

[Über den Geisterglauben bei den Minahasa handelt auch der Weltgeflüster-Beitrag „Die Herbergssuche von Kaima“.]

Kategorie(n): Geschichtliches und Völkerkundliches, Heiliges und Unheiliges, Indonesisches und Manadonesisches

1 Beitrag der Leser

  • Helga Moll

    // Aug 26, 2008 at 16:31

    Lieber Markus,
    für mich als langjährige Asienreisende nachvollziehbar ohne wenn und aber.
    Ich warte schon auf den nächsten Beitrag.
    Liebe Grüße
    Helga

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Kommentar: