BAHNFAHRT

Erlebnis in Schwäbisch-Malaysia

von Markus A. Maesel · 07.08.2013 · 3 Kommentare

Die Deutsche Bahn zeigt sich derzeit wieder einmal als unkalkulierbarer Pendlerschreck, die ihre Kunden ständig mit unliebsamen Überraschungspaketen und Wundertüten beglückt. So auch vorgestern Abend, als ich vom U-Bahn-Schacht in den Stuttgarter Hauptbahnhof haste, um noch den ICE um 17.51 Uhr nach Mannheim zu bekommen. Der Bahnsteig ist jedoch leer. Die elektronische Anzeigetafel verkündet lapidar, dass der Zug ausfalle; eine Begründung liefert sie nicht.

Ich eile auf eines der benachbarten Gleise, auf dem um 17.56 Uhr der IC in Richtung Mannheim-Saarbrücken abfahren soll. Wegen der Bauarbeiten zu „Stuttgart 21“ steht er ganz vorne im Ausfahrbereich des Sackbahnhofs. Ich muss daher einen Zahn zulegen, was bei mehr als 30 Grad Sommerhitze nicht leicht fällt. Geschafft, ich lasse mich in einen der Plüschsessel des antiquierten Waggons fallen. 17.56 Uhr – der Zug macht keinerlei Anstalten abzufahren. Irgendwann eine Lautsprecherdurchsage, dass der IC noch ohne Personal sei und dass dieses erst noch aus einem verspäteten Zug zusteigen müsse. Später erfolgt die Information, dass die Zugbegleiter jetzt zwar eingetroffen seien, aber noch die gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit einhalten müssten. Also ruhen Personal und Fahrgäste gemeinsam.

Während der Auszeit denke ich an eine Busfahrt in Malaysia, die ich 1996 mit einem Freund von Grik nach Ipoh unternahm. Wir standen unter Zeitdruck, da wir noch den Nachtbus von Ipoh nach Singapur bekommen mussten. Doch der alte Bus klapperte gemütlich durch den Norden der Malaiischen Halbinsel, gelegentlich stieg der Fahrer aus, um eines der Hinterräder zu kontrollieren. Plötzlich hielt er in einem kleinen Dorf vor einer Moschee, packte seinen Gebetsteppich aus und verschwand zum ausgiebigen Freitagsgebet in dem Gotteshaus. Verständnisvoll und gelassen wartete der vollbesetzte Bus, bis der Fahrer seinen religiösen Pflichten genügt hatte – keine Beschwerde, kein böses Wort, kein Anzeichen von Hektik. Das fanden wir exotisch und spannend.

Ich stelle mir nun einfach vor, dass ich mich nicht in Stuttgart, sondern in Kuala Lumpur auf dem Hauptbahnhof befinde. Die Sommerhitze passt schließlich auch dazu. Natürlich habe ich als aufgeklärter pfälzischer Weltreisender Verständnis für die „Gummizeit“ (jam karet) der schwäbischen Malaien. Soviel Exotik muss sein. Selbstverständlich brauchen sie Zeit für eine Zigarettenpause und ihr Seelenheil. Und sie sind schneller als damals der Fahrer beim Freitagsgebet, schon nach zwanzig Minuten kann der Zug die Fahrt aufnehmen – durch imaginäres Tropengrün. Einfach toll, was ich für 302 Euro im Monat alles erleben darf.

[Erlebt am 5.08.2013].

Kategorie(n): Mobiles und Zugiges

3 Beiträge der Leser

  • Catja Rüter

    // Aug 8, 2013 at 00:35

    Ja, so sieht die Wirklichkeit in Deutschland aus!
    Eigentlich kann man es ja gar nicht glauben und vermutet eine Satire oder die „VERSTECKTE KAMERA“ dahinter.
    Es gab mal ein Lied mit dem Titel: Eine Bahnfahrt die ist lustig eine Bahnfahrt die ist schön, ja da kann man….

  • Markus A. Maesel

    // Dez 9, 2016 at 20:19

    Wieder so ein Fall: Heute wurde der in Stuttgart startende ICE 572 mit 20-minütiger Verspätung angekündigt, weil das Zugbegleitpersonal noch nicht eingetroffen war. Durch die Verzögerung war dann die Bahnstrecke belegt, so dass der Zug erst über eine halbe Stunde später in Mannheim ankam.

  • IC 2052 | Weltgeflüster

    // Dez 11, 2016 at 01:29

    […] Fahrten mit IC 2052 verdankt Weltgeflüster zwei Geschichten: Bahnfahrt - Erlebnis in Schwäbisch-Malaysia und Neue alte Erkenntnis - Marode Bahn; Hinweise zu IC 2052 im […]

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