WORTHÜLSEN (3)

Visionen

von Markus A. Maesel · 02.03.2010 · 3 Kommentare

Ein Blick in die Zeitung oder ins Internet offenbart es: Deutsche Unternehmer – vom Wirtschaftskapitän bis zum kleinen Mittelständler – werden von Visionen geplagt. Bei manchen hört es gar nicht mehr auf – „langfristige Visionen“ fallen gnadenlos über sie her und verwandeln sie in leibhaftige Kreativitätsvulkane. Inzwischen gibt es Visionen für ganze Firmen, die nebeneinander gelegt merkwürdigerweise alle gleich aussehen. In besonders auf „innovativ“ gestylten Unternehmen darf selbst das Reinigungspersonal ohne Visionen keinen Putzlappen mehr in die Hand nehmen.

Erinnern wir uns noch an vorvisionäre Zeiten in der Wirtschaft? Da wurden Unternehmer und ihre Betriebe groß durch Geschäftsideen, Erfindungen, Verbesserungen, Experimente, Risikofreude aufgrund eines guten Produkts, Ingenieurleistung, Ausbildung und Weiterbildung, Erkennen von Marktnischen, Blick für das Spiel des Marktes, auf Vertrauen basierende Geschäftsbeziehungen. Doch ohne Visionen scheint heutzutage ein Unternehmer als altbacken zu gelten.

Jenseits des großen Teiches, im Land der unbegrenzten Eitelkeiten, wurde die Vision, damit sie einen Konzern nicht klammheimlich bei Nacht und Nebel verlassen kann, in der Position des „Chief Visionary Officer“ (CVO) gefangen und institutionalisiert. Microsoft-Gründer Bill Gates gehörte zu den ersten CVO in den Vereinigten Staaten. Das Wörterbuch der Mystik hält als wichtigstes Charakteristikum einer Vision fest: „Vision, während der Ekstase oder im Schlaf erlebte ‚Ausleibigkeitserfahrung’, bei der die Seele sich durch übernatürliches Wirken in andere Räume versetzt sieht“. Ausleibigkeitserfahrungen in internationalen Konzernen? Bill Gates verklärt hinter dem Schreibtisch sitzend und verzückt an einem überdimensionierten Mescalin-Pilz nagend?

Sollten Wirtschaftskapitäne nicht besser in ihrem Körper verharren, damit sie merken, wenn ihr Karren gegen die Wand fährt? Bodenhaftung statt Visionen? Wer dennoch in seinem Unternehmen nicht ohne derartige Zustände auskommen kann, dem sei mit Altbundeskanzler Helmut Schmidt geraten: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“.

Quellen und Literatur: Peter Dinzelbacher: Art. „Vision“. In: Wörterbuch der Mystik. Herausgegeben von Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1989, S. 514/515. – Zum „Chief Visionary Officer“ (CVO) vgl. Wikipedia. – Zitat von Helmut Schmidt.

ZU WORTHÜLSEN (1)

ZU WORTHÜLSEN (2)

Kategorie(n): Gesellschaftliches und Wirtschaftliches

3 Beiträge der Leser

  • Anne

    // Mär 4, 2010 at 19:01

    Lieber Markus,
    da hast Du die Situation ja mal wieder trefflich auseinander buchstabiert.
    Das Resultat neumodischer wirtschaftlicher Visionen ist mit Sicherheit ein neuer Bluff mit Erfolgsetikett. Leider findet sich auch immer gleich wieder eine Schar profitgeiler Gläubiger. Erfolg ist Erfolg. Wie lange er anhält und welche Pleite er nach sich zieht, interessiert keinen.

    Liebe Grüße auch an Deine Familie

    Anne

  • Heriman

    // Mär 6, 2010 at 10:25

    Hallo,

    viele visionäre Worthülsen sind auch einfach nur Lippenbekenntnisse und gehören botanisch wie die Hülsenfrüchte zu den Lippenblütlern…

    Gruß,
    Heriman

  • Markus A. Maesel

    // Dez 28, 2010 at 08:28

    Den Beitrag habe ich auch unter dem Nutzernamen “Tonaas” bei Zeit Online, Leserartikel veröffentlicht:

    http://community.zeit.de/user/tonaas/beitrag/2010/12/15/visionen

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Kommentar: