IM SANGIHE-TALAUD-ARCHIPEL

Der schwankende Weg nach Tahuna (Teil 3)

von Markus A. Maesel · 05.11.2009 · 3 Kommentare

Nachmittags möchte ich Geld umtauschen. Die großen indonesischen Banken sind zwar mit ihren Filialen in der Verwaltungsstadt Tahuna vertreten, aber keine sieht sich in der Lage, Euros zu wechseln. Nur Dollars wollen sie haben, die ich aber nicht besitze. Und Manado ist weit weg. Edy, Schwiegervater Uske und ich machen daraufhin in unserer Pension Kassensturz. Wir werden haushalten müssen. Vielleicht müssen wir nun im Stadtzentrum singen, am Strand Kue biapong – Dampfnudeln mit Ei- oder Fleischfüllung – verkaufen und in Hotels Teller waschen, um unsere Finanzen aufzubessern, scherzen wir.

Nicht weniger problematisch ist der Ticketkauf für die Rückfahrt nach Manado. Mehrmals fahren wir zwischen den beiden äußersten Enden der Bucht hin und her, bis wir wissen, dass sich im Hafen zwar ein Büro von Express Bahari befindet, welches jedoch nur für das Einchecken zuständig ist; die Fahrkarten selbst aber in einer Niederlassung im alten Hafen (Pelabuhan lama) erworben werden müssen. Von den Einheimischen, besonders von den Sammeltaxifahrern (Mikrolet), war keine Auskunft zu bekommen.

Im Hafen begutachten wir auch andere Schiffe für die Heimfahrt. Beim Anblick der rostigen „Terra Sancta“ aus Bitung – der stolze lateinische Name bedeutet „Heilige Erde“ – frage ich mich, ob auch die Übersetzung „Heiliger Meeresgrund“ zulässig ist. Bleiben wir besser bei der teureren und schnelleren Express Bahari.

Den Nachmittag beschließen wir am Strand und mit einem Spaziergang durch die angrenzende Siedlung. Lauter kleine, adrette Häuschen mit Blumen in den Gärtchen und Topfpflanzen bestimmen das Bild. Dazwischen finden sich auch noch Häuser aus der holländischen Kolonialzeit. Die Straße ist außergewöhnlich sauber – es gibt Mülltonnen. Hunde gehören zum Straßenbild. Schwiegervater Uske ist über die vielen alten Hunde empört. Bei den Minahasa wären sie schon längst gegessen worden. Tatsächlich habe ich in Manado noch nie einen kläffenden Methusalem gesehen. Für meinen Schwiegervater ist das hier ein wahrer Gammelfleisch-Skandal, eine Vergeudung wertvoller Proteinressourcen.

In Tahuna sind die Menschen auf das Auftauchen eines „Bule“, eines weißhäutigen, langnasigen Ausländers, nicht eingestellt. Trete ich in Erscheinung, schallt es aus allen Ecken „Hallo Mister“, „Hallo Mister“. Lausbuben fügen meist noch ein beherztes „Fuck you, Mister“ hinzu. Durch meine indonesische Begleitung ist gewährleistet, dass Ausgänge nicht vollkommen zum Spießrutenlauf geraten. In der Siedlung am Strand kommt eine junge Frau auf mich zu, reicht mir die Hand zum Gruß und sagt freundlich „Good afternoon, Mister“. Es geht also auch anders. Ungläubiges Staunen löse ich meist aus, wenn ich mit den Menschen nicht Englisch, sondern Bahasa Indonesia rede.

Auf dem Rückweg zu unserer Pension kommen wir an mehreren weißgetünchten Kirchen vorbei. Tahuna hat eine hohe Dichte an Gotteshäusern, auch zwei Moscheen sehe ich. Das Verwaltungsgebäude des „Departemen Agama“, der Religionsbehörde für den kleinen Kabupaten (Landkreis) Sangihe, ist außerordentlich weitläufig. Die religiöse Grundversorgung ist in Indonesien immer gewährleistet.

Am nächsten Morgen wollen wir den Küstenort Tamako besuchen. In unserer Herberge hat mein Schwiegervater erfahren, dass es dort auch ein Grab deutscher Missionare geben soll. Nach einem Wolkenbruch fahren wir mit dem Mikrolet zu einem Busterminal in der Nähe des Hafens. Auf unbefestigtem Gelände stehen zwischen Wasserpfützen robuste, vom harten Straßenleben gezeichnete Kleinbusse. Wir erfragen das Vehikel nach Tamako. Doch der Bus fährt erst los, wenn alle Sitzplätze besetzt sind. Geduldig warten wir, nach und nach füllt sich das Fahrzeug, doch ein Platz bleibt leer. Weiteres Warten folgt, ohne dass sich noch ein Reisender erbarmt, nach Tamako zu wollen. Der Fahrer schlägt vor, dass alle Passagiere sich die Kosten für den freien Platz teilen. Wir stimmen zu, der Chauffeur wirft den Motor an, eine große, auf dem Boden quer liegende Lautsprecherbox hinter der ersten Sitzreihe beginnt zu lärmen und zu dudeln. Am häufigsten höre ich in den folgenden Schlagern ein klagend schmachtendes „Sayang“. „Sayang“ bedeutet „Liebling“, aber auch „schade“. Bis wir die Strecke nach Tamako bewältigt haben, ist musikalisch die gesamte Bandbreite indonesischer Liebe-Hiebe-Triebe-Problematik abgearbeitet.

Sangihe Besar ist eine gebirgige, nur schwer zugängliche Insel – selbst in Küstennähe. Ständig fährt unser Kleinbus auf der etwa vier Meter breiten Straße hoch und runter, die vielen steilen Kurven erlauben nur ein langsames Vorankommen. Zahlreiche Weiler mit unmittelbar an der Straße gelegenen Häuschen werden durchquert. Gelegentlich eröffnen sich spektakuläre Ausblicke auf die Bucht von Tahuna und auf kleinste Inselchen im Meer. Zwei Männer tragen am Straßenrand ein an einer Bambusstange herabhängendes, schwarzes Schwein auf ihren Schultern. Sein Maul ist zugebunden, damit es nicht nach seinen potenziellen Schlächtern schnappen kann.

Tamako liegt in einer Ebene mit saftigem, hellgrün leuchtendem Gras, die durch Bergzüge und das Meer begrenzt ist. In Meeresnähe finden sich einige idyllische Seen. Locker sind die Häuschen an wenigen Straßen über die Ebene verteilt. Das lärmende, gesichtslose Zentrum des Ortes erstreckt sich über ein paar hundert Meter um eine Straßenbiegung. Mopedrikschas bieten überall ihre Dienste an.

Unweit des Zentrums findet sich das alte evangelische Pfarrhaus, ein Holzbau mit dunklen, hohen Räumen, der schon über hundert Jahre steht. Davor liegt seitlich im Garten das Grab des von uns gesuchten deutschen Missionars und seiner Ehefrau. Es ist mit Steinplatten umfasst, kein Grün, kein Blumenschmuck; ein weißgekalkter Grabstein mit deutlichen Verwitterungsspuren gibt mit einer Inschrift in niederländischer Sprache Einblick in ihr Leben.

Beide wurden im Sangihe-Archipel geboren, lebten und starben hier. Amanda C. C. Kelling, geborene Steller, erblickte in Manganitu, unweit von Tamako, 1864 das Licht der Welt und verstarb bereits 1906 im Alter von 42 Jahren. Ihr Gatte Martin Kelling wurde 1863 auf der Salak-Insel Tahulandang (Tagulandang) geboren und verschied 1912 im Alter von 49 Jahren. „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben“ (Offenbarung des Johannes 14,13) steht als Tröstungsversuch in den Grabstein eingemeißelt. Haben die beiden Deutschen Europa jemals gesehen? Konnten sie überhaupt noch Deutsch oder sprachen sie besser Niederländisch? Wie haben die beiden ihr Leben im damals noch zivilisationsfernen Tamako gestaltet? Raffte sie ein Tropenfieber hinweg? Fragen, auf die der kalte Grabstein keine Antwort geben kann. Es ist ein seltsames und berührendes, fast surreales Erlebnis, in diesem abgelegenen Teil der Welt auf deutsche Spuren zu stoßen.

Auf dem Nachbargrundstück steht die neue evangelische Pfarrkirche, weißgetüncht mit rotem Wellblechdach, auf dem ein Dachreiter angebracht ist. Auf ihm thront ein goldener Wetterhahn, der noch von der alten Kirche stammt – ein weiteres deutsches Relikt in Tamako. „Gereja ayam“ – so genannte „Hühnerkirchen“ – seien in Indonesien selten, bemerkt mein Schwiegervater. Sie gibt es wohl überall dort, wo deutsche, protestantische Missionare von liebgewonnenen Gewohnheiten nicht lassen konnten. Stumm krähendes Heimweh in der Fremde?

Plötzlich piepst Schwiegervater Uskes Handy in meine Nachdenklichkeit hinein. Meine Frau ist am Apparat. Unsere kleine Tochter muss wegen einer Infektionserkrankung ins Krankenhaus und ruft nach ihrem Papa. Schlagartig wirken die tropisch-satten Farben meiner Umgebung blass auf mich, die von mir gesuchte Abgelegenheit des Eilandes wird zum Fluch der Insel. Wie kommen wir schnell nach Manado zurück? Eine wirkliche Alternative zur Express Bahari gibt es nicht, wir müssen uns in Geduld üben. Passend zur gedrückten Stimmung fahren wir im strömenden Regen nach Tahuna zurück, fast stürzt der Kleinbus bei einem Ausweichmanöver die glitschige Böschung hinunter.

Der Sohn unseres Herbergswirts, selbst Vater von kleinen Kindern, sieht die Ursache für die Erkrankung meiner Tochter in der Sehnsucht nach ihrem Papa. Ich hätte – wie in Indonesien üblich – ein gebrauchtes Hemd von mir in das Bett des Mädchens legen sollen. Dann hätte es mich immer gerochen und der Trennungsschmerz wäre gelindert gewesen. Gut, wenn einen die eigene Tochter riechen kann.

Frühmorgens finden sich Edy, Schwiegervater Uske und ich im Hafen von Tahuna ein. Um neun Uhr soll die Express Bahari nach Manado aufbrechen. Das Schiff ist noch verschlossen, wir haben mehr als eine Stunde Zeit, das Hafentreiben zu beobachten. Alles ist nass vom Regen, überall Wasserpfützen, gelegentlich tröpfelt es. Eine javanische Jamu-Verkäuferin, die in einem Korb Flaschen mit Naturheilmitteln auf dem Rücken trägt, schweift über das Gelände auf der Suche nach Kundschaft. Am Kai liegt schon lange ein gesunkenes Schiff im Wasser, an dem sich aber niemand stört, obwohl es die Anlegemöglichkeiten verringert. Langsam wird der Hafen wach, Schiffe werden be- und entladen. Pünktlich startet unser Expressboot, es ist dieses Mal auch nicht überfüllt. Ich stehe am Heckende im Freien und sehe, wie Tahuna immer kleiner wird. Das Schiff verlässt die Bucht. Lange schaue ich auf den Feuerberg Awu, bis er am Horizont verschwindet.

Es fängt an zu regnen, ich begebe mich ins Innere der Express Bahari. Der Himmel wird immer grauer, ebenso das Meer, das immer höhere Wellen hervorbringt. Es scheint, als wolle die Natur Himmel und Erde mit Regenfäden zu einem grauen Gesamtkunstwerk zusammennähen. Das verhältnismäßig kleine Schiff schaukelt die nächsten Stunden bedrohlich hin und her; es „rollt“, wie der Seemann sagt. Eine muslimische Frau mit Kopftuch beugt sich betend nach vorne und hofft auf die im Koran verheißene Allbarmherzigkeit Allahs, andere flüchten in den Schlaf, viele greifen dankbar nach den schwarzen Plastiktüten, die der freundliche Steward im Sekundentakt von der Rolle abreißt. Sie wollen nur noch befreit loslassen. Indonesier erleiden Reisen; meist reisen sie nicht aus Lust, sondern aus Notwendigkeit. Ihr Dreh-, Angel- und Glückspunkt ist im Regelfall das überschaubare dörfliche Leben. Die Schiffe der Magellan-Expedition, die 1521 als erste Vertreter Europas diese Route nach Süden fuhren, mussten ohne Plastiktüten auskommen.

Wir erreichen den Hafen von Siau. Ein artistisch veranlagter Mitreisender trägt im Unwetter nacheinander zwei Türblätter vom Oberdeck an den sicheren Kai. Die fliegenden Händler entern ungerührt von der Wetterlage das Boot und versuchen ihre Waren an die erbleichten Passagiere zu bringen. Ihr Essensverkauf läuft heute nicht besonders gut. Dann geht es wieder hinaus auf die stürmische See. Die nächste Station ist die Insel Tahulandang. Hier versucht unser Expressboot mehrmals vergeblich am in das Meer hinausragenden Pier anzulegen. Damit es aufgrund des Wellengangs nicht zu einer Kollision kommt, verlässt ein größeres Schiff kurzzeitig die Anlegestelle. Wir können festmachen. Bis wir die Küste von Sulawesi erreichen, fährt Neptun in den Untiefen des Meeres mit seiner dramatischen Lustorgie fort.

Durchgeschüttelt kommen wir im Hafenbecken von Manado an. Kurz darauf holt uns die Familie mit einem Mikrolet ab, wir fahren mit gemischten Gefühlen zum Adventistenkrankenhaus in den Stadtteil Teling. Meine Tochter sitzt blass und abgemagert, an einer Infusionsflasche hängend, im Rollstuhl. Mit feuchten Augen greife ich nach ihren kleinen Händen (vgl. Fortsetzungen „Im indonesischen Krankenhaus“, Teil 1 und Teil 2).

Die Reise nach Tahuna war vom 29. Juni bis 2. Juli 2009.

ZUM TEIL 1 UND ZUM TEIL 2 DER TAHUNA-TRIOLOGIE

Bilderbogen

Gesunkenes Schiff im Hafen von Tahuna

Angerostete Terra Sancta aus Bitung

Die Spitzen des Vulkan Awu vom Hafen aus gesehen

Grabstein für deutschen Missionar und seine Ehefrau in Tamako

Grabinschriften

Ehemaliges evangelisches Pfarrhaus in Tamako

Evangelische Kirche in Tamako mit Wetterhahn

Strand von Tamako

Hafentreiben in Tahuna

Die Express Bahari in Tahuna vor der Abfahrt

Abladen von Türblättern im Hafen von Siau

Blick auf Manado mit dem Klabat im Hintergrund - Fotos: Markus Maesel

Kategorie(n): Geschichtliches und Völkerkundliches, Indonesisches und Manadonesisches, Mobiles und Zugiges

3 Beiträge der Leser

  • Helga

    // Nov 5, 2009 at 15:48

    Lieber Markus,
    wieder voll aus dem Leben und so anschaulich, dass man am liebsten gleich den Flug nach Asien buchen würde.
    Gruß
    Helga
    P.S. Ich freue mich schon auf den nächsten Teil

  • Böhmer Gerhard

    // Nov 6, 2009 at 19:01

    Einfach super deine Berichte. Und die Bilder genial. Kompliment. Weiter so. Lieben Gruß an Deine Familie.

  • Herwig

    // Sep 8, 2010 at 13:07

    Sehr eindrucksvoll,realistisch und unterhaltsam geschrieben. Hoffentlich wurde das Toechterlein wieder schnell gesund, als sie Dein Hemd roch.
    Aber: “14 000 Rp. fuer 1 Euro” ist goldene Vergangenheit. Z.Zt. sind es nur 11 300 Rp.
    Herzliche Gruesse an Euch 4 aus Bogor,
    Herwig

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